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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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verloren. Jetzt kommt an meine Brust, alter Freund! Wie lange ist es her, dass wir uns nicht mehr gesehen haben?«
    La Roqua antwortete nicht, stattdessen fiel er dem Einäugigen um den Hals. Die beiden Männer begrüßten sich mit einer Herzlichkeit, die John keinem von beiden zugetraut hätte. Doch er machte sich nichts vor. Diese Herzlichkeit wurde nur einem engen Personenkreis zuteil – er selbst gehörte nicht dazu.
    Gonzalo Pizarro meldete sich wieder zu Wort. »Francisco, lasst uns an die Spitze des Zuges reiten, damit ich allen die frohe Botschaft Eurer Ankunft verkünden kann!«, sagte er feierlich, als spreche er von der Menschwerdung Jesu, und saß auf. Orellana, La Roqua und die anderen Reiter taten es ihm gleich.
    »Wie viele Männer habt Ihr bei Euch?«, fragte Pizarro noch immer strahlend.
    »Ich bedauere zutiefst, es sagen zu müssen – nur ein Dutzend. Die anderen sind den Tücken der Reise erlegen. Ein Angriff der Wilden, Fieber und andere Krankheiten … Aber seid versichert, Cousin, dass die wenigen Begleiter, die mir verblieben sind, den Mut einer ganzen Kompanie im Herzen tragen.«
    »Nur ein Dutzend also«, murmelte Pizarro ernüchtert. »Ich hatte mir offen gestanden etwas mehr erwartet.« Doch die Wiedersehensfreude überwog offenbar die Enttäuschung, denn schon erhellte sich seine Miene wieder. »Wie dem auch sei, die Hauptsache ist, dass Ihr endlich an meiner Seite seid. Gemeinsam werden wir den Gefahren des Waldes schon die Stirn bieten.« Er gab seinem Pferd die Sporen und preschte davon, während die anderen sich beeilten, ihm zu folgen.
    Die Angst fiel wie eine Zentnerlast von John ab. Er hatte sich bereits mit einem Bein im Grab gesehen, jetzt freute er sich darüber, noch einmal mit dem Schreck davongekommen zu sein.
    Eine Sache beschäftigte ihn allerdings: Francisco de Orellana wurde nur von einem Dutzend bewaffneter Reiter begleitet. John hätte jedoch ein Vermögen darauf gewettet, dass in Gaspar de Carvajals Tagebuch von exakt einundzwanzig Soldaten die Rede gewesen war, die darüber hinaus all ihre Pferde unterwegs verloren hatten. Wie kam es zu dieser Diskrepanz?
    Wie er die Sache auch drehte und wendete, er fand dafür nur eine Erklärung: Er musste sich täuschen. Immerhin hatte er seine Doktorarbeit vor vielen Jahren geschrieben. War es da nicht normal, Dinge zu vergessen oder sich falsch ins Gedächtnis zu rufen?

Kapitel 10
    Francisco de Orellanas Ankunft und die damit verbundene Aufregung hatte John zumindest vorübergehend von den Schwierigkeiten seiner Zeitreise abgelenkt. Als er nun jedoch wieder an der Seite von Hernán Gutiérrez hinter den Lamas und Schweinen hertrabte, kehrte rasch die Langeweile zurück und mit ihr das bange Gefühl der Ungewissheit. Wie lange mochte sein unplanmäßiger Aufenthalt während dieser dritten Etappe noch dauern? Würde Gordons Computer den Fehler irgendwann erkennen und ihn aus seiner Zwangslage befreien? Oder war er womöglich für Wochen, Monate oder gar Jahre hier gefangen? Vielleicht sogar für immer? Ihm wurde plötzlich übel, und sein Herz fing wie wild zu hämmern an.
    Noch bin ich höchstens ein paar Stunden über der Zeit, versuchte John sich zu beruhigen. Gordons Team hat garantiert mitbekommen, dass der fällige Zeitsprung ausgeblieben ist, und arbeitet mit Hochdruck an einer Lösung. Ich muss die Nerven behalten – und so lange am Leben bleiben, bis ich wieder in die Gegenwart zurückkehren kann.
    Allerdings hatte er inzwischen gemerkt, dass das für jemanden, der aus einer anderen Welt kam, gar nicht so leicht war. Die Reise steckte voller Unwägbarkeiten, wobei die größte Gefahr von den spanischen Soldaten ausging. Insbesondere die Anführer – Pizarro, Orellana und La Roqua – waren launige Naturen, die binnen einer Sekunde über Leben und Tod von anderen entschieden. Wer nicht zu ihrem engsten Kreis zählte, musste stets fürchten, in Ungnade zu fallen.
    Freilich war John sich darüber bewusst, dass die Indios noch viel stärker zu leiden hatten als er, denn erstens galten sie in den Augen der Spanier kaum mehr als die Schweine und Lamas, und zweitens spielte sich ihnen gegenüber selbst der niedrigste Soldat zum Tyrannen auf, wenn irgendetwas nicht so lief, wie es laufen sollte. Die Eingeborenen lebten in ständiger Angst vor der Willkür der Eroberer – das war hier im Dschungel kaum anders als in Quito.
    Die nächsten Stunden verliefen ohne weitere Zwischenfälle, was John sehr gelegen kam. Mitten

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