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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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werden. Es war nichts weiter als eine Reise ins Verderben, die John als begeisterter Historiker nur deshalb interessant fand, weil eine kleine Gruppe von Konquistadoren es trotz aller Widrigkeiten schaffte, den kompletten Kontinent zu durchqueren – als erste Europäer überhaupt.
    Während Gutiérrez weiter vor sich hinspann, welchen Luxus er sich von seinem Anteil leisten würde, bemerkte John, dass sie ein gutes Stück hinter den Zug zurückgefallen waren. Zwar hörte er noch das Quieken und Grunzen der Schweine, aber sehen konnte er sie nicht mehr. Das vor ihnen liegende Dickicht hatte den Tross komplett verschluckt.
    Das Gefühl der Isolation verstärkte sich. Ob Hernán Gutiérrez nun in Johns Nähe war oder nicht – er wollte so schnell wie möglich wieder zum Rest des Zuges aufschließen. Bevor er seinen Vorsatz jedoch in die Tat umsetzen konnte, hörte er hinter sich ein Geräusch – das Knacken eines morschen Astes. Augenblicklich blieb John stehen und drehte sich um. Wieder ein Knacken. Dann war alles wieder ruhig.
    »Habt Ihr das gehört?«, raunte er Gutiérrez zu, der ebenfalls Halt gemacht hatte und reglos in die Richtung starrte, aus der sie gekommen waren.
    »Gewiss.«
    »Glaubt Ihr, wir werden verfolgt?«
    »Es würde mich zumindest nicht wundern.« Über die Lippen des Spaniers kam kaum mehr als ein Flüstern. »Wir befinden uns im Gebiet der Jívaro-Krieger, die ihren Gegnern die Köpfe abschneiden, um sie an Lederbändern um den Hals zu tragen. Das hat einer der Führer erzählt.«
    Die Jívaro waren ein berüchtigtes Kopfjägervolk, das wusste John. Aber er war der Meinung gewesen, ihr Gebiet würde erst viel weiter östlich beginnen. Er konnte sich auch nicht entsinnen, von einer kriegerischen Auseinandersetzung zu einem derart frühen Zeitpunkt der Reise gelesen zu haben. Doch sein akademisches Wissen half ihm nicht über die Angst hinweg, die ihn in diesem Moment packte. Sein Hals fühlte sich rau und trocken an, sein Magen verkrampfte sich. Wieder wurde ihm bewusst, dass die dritte Etappe seiner Reise eigentlich längst hätte vorbei sein müssen. Er befand sich außerhalb des Erfahrungshorizonts von Gordon Cox und dessen Team. Auch außerhalb dessen, was er sich im Rahmen seiner Doktorarbeit angelesen hatte. Genau das machte es so schwer, die Gefährlichkeit der Situation einzuschätzen. Vielleicht waren die Jívaro ihnen tatsächlich auf den Fersen. Vielleicht würden sie schon in den nächsten Minuten einen blutigen Angriff starten, der aus unbekanntem Grund nie in die Annalen der Konquista eingegangen war. Vielleicht hatte aber auch nur ein Affe oder ein anderes wildes Tier das Geräusch verursacht. Oder es war ganz einfach ein morscher Ast von einem Baum abgefallen. Es gab viele harmlose Erklärungen für das Geräusch. Aber eine innere Stimme sagte John, dass sie verfolgt wurden. Instinktiv suchte er Deckung hinter einem Baumstamm. Hernán Gutiérrez tat es ihm gleich.
    »Was sollen wir tun?«, flüsterte John. »Alarm schlagen?«
    Der Spanier blieb die Antwort schuldig. Stattdessen starrte er auf das grüne Dickicht aus Blättern und Zweigen, gerade so, als sei er durch pure Konzentration in der Lage, es mit Blicken zu durchdringen. Gleichzeitig nahm er mit einer geübten Bewegung die Armbrust vom Rücken.
    »Weshalb benutzt Ihr nicht Eure Arkebuse?«, zischte John. »Damit könnten wir ein ganzes Heer von Wilden in die Flucht schlagen.«
    »Wie soll das funktionieren – ohne Feuer?« Die Antwort kam leise, aber scharf. Auch Gutiérrez' Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
    John erinnerte sich, dass die Gewehre dieser Zeit nicht grundlos als Feuerwaffen bezeichnet wurden. Ohne ein Gluteisen oder ein glimmendes Kohlestück waren sie allenfalls als Keulen zu gebrauchen.
    John zwang sich, der Realität ins Auge zu sehen. Falls es zum Kampf kam, musste er sich verteidigen. Zwar kannte er den Umgang mit der Armbrust nur durch die Schießübungen auf Caldwell Island, doch eben diese spielerischen Fertigkeiten kamen ihm jetzt zugute. Er setzte die Spitze der Armbrust auf dem Boden ab, trat mit der Stiefelspitze in den am Bogen befestigten Steigbügel und fing mit einem an seinem Ledergürtel befestigten Haken die Sehnenmitte auf. Durch Aufrichten seines Körpers spannte John den Bogen, bis die Sehne in die Kerbe der sogenannten Nuss einrastete. Anschließend zog er aus dem ledernen Köcher an seiner Hüfte einen Bolzen, legte ihn ein und zielte an seinem Baumstamm vorbei auf den

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