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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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der Eingeborenen statt. Dennoch fühlte er sich angespannt, und spätestens, als er die heilige Stätte der Jívaro mit eigenen Augen sah, war er absolut nicht mehr sicher, welche Überraschungen diese Reise noch für ihn bereithielt. Der Dominikaner hatte über diesen Ort kein einziges Wort in seinem Tagebuch vermerkt. Daran hätte John sich hundertprozentig erinnert: Auf einer kleinen, gerodeten Lichtung steckten Dutzende, nein, Hunderte von Schrumpfköpfen auf etwa anderthalb Meter hohen Holzpflöcken. Andere Schrumpfköpfe hingen an dünnen Lederbändern von den Ästen der umstehenden Bäume herab. Obwohl kein Windhauch zu spüren war, schaukelten einige von ihnen sanft hin und her, wie von Geisterhand bewegt.
    John wollte den Blick abwenden, doch die Schrumpfköpfe waren überall. Er kam sich vor wie ein Besucher in einem albtraumhaften Skulpturenpark.
    »Sie entfernen ihren Feinden die Schädelknochen mitsamt Gehirn«, raunte Hernán Gutiérrez. Zwar schien er von dem grässlichen Anblick nicht gerade erbaut, doch Johns Entsetzen teilte er längst nicht. »Auch die Augen werden entfernt«, dozierte er weiter. »Anschließend nähen sie die Lider und den Mund zu und räuchern die Köpfe über einem Feuer, um sie haltbar zu machen. Die Wilden nennen sie Tsantsa.«
    Woher er sein Wissen hatte, blieb sein Geheimnis. John verspürte keine Lust, ihn danach zu fragen. Alles, was er wollte, war so schnell wie möglich von diesem grauenhaften Ort zu verschwinden.
    Die Nacht senkte sich rasch über den äquatorialen Urwald und umschloss den Tross mit Dunkelheit. John konnte kaum noch die Hand vor den Augen sehen. Dennoch wagte niemand, eine Fackel zu entzünden. Die Angst vor den Eingeborenen war einfach zu groß.
    Um das Jívaro-Gebiet möglichst schnell wieder zu verlassen, marschierte der Zug ohne Rast weiter. Aufgrund der schlechten Sicht kam er nur langsam voran. Wie eine träge Schlange wand er sich durch das nachtschwarze Labyrinth des Dschungels.
    Inmitten der Finsternis verlor John schon bald jegliches Zeitgefühl. Seine Muskeln schmerzten, seine Beine waren bleischwer, und die Blasen an seinen Füßen brachten ihn fast um. Jeder Schritt war eine Tortur. Zudem verfolgte ihn die noch frische Erinnerung an die Tsantsa. Die Schrumpfköpfe schienen ihn in einem teuflischen Reigen zu umtanzen, ihn einzukreisen und ihn aus zugenähten Lidern anzustarren. Beinahe glaubte John, die Schreie der Opfer zu hören, ihr Flehen um Gnade und ihr ersticktes Röcheln im Augenblick des Todes. Und als wäre das noch nicht genug, drängte sich ihm auch wieder die quälende Frage ins Bewusstsein, wie es um seine Rückkehr in die Gegenwart bestellt war.
    Irgendwann im Lauf der Nacht hüllte sich ein gnädiger Mantel aus Müdigkeit und Erschöpfung um John und verdrängte allen Schmerz und Zweifel. Was ihn von da an auf den Beinen hielt, wusste er selbst nicht, er lief einfach nur weiter, immer weiter, folgte den Lamas und Schweinen, die er mehr erahnen als sehen konnte. Er ließ sich treiben, vertraute darauf, den Anschluss nicht zu verlieren, marschierte weiter, wollte nur noch die Augen schließen und schlafen.
    Die Finsternis schien eine Ewigkeit anzudauern. John, der dem Zug wie in Trance folgte, hatte den Eindruck, mehrere Nächte hintereinander durchzulaufen, ohne Unterlass. Hin und wieder griff er in seine geschulterte Ledertasche, um ein Stück Pökelfleisch oder die Feldflasche hervorzukramen. Aber weder Essen noch Trinken konnten den Schlafmangel ersetzen.
    Im Morgengrauen erging endlich der Befehl zu rasten. Völlig erschöpft sank John zu Boden, an einen Baumstamm gelehnt schlief er augenblicklich ein. Als Hernán Gutiérrez ihn unsanft wachrüttelte, konnte er kaum glauben, dass die Reise schon fortgesetzt wurde. Er fühlte sich mehr tot als lebendig. Sein Kopf kam ihm dumpf und leer vor, in seinen Schläfen pochte der Schmerz. Keine Spur von Erholung. Mühevoll richtete er sich auf. Seine Beinlinge waren durchnässt von der feuchten Erde, der Brustpanzer drückte und rieb an unzähligen Stellen. Er fror und hätte sich am liebsten in eine heiße Badewanne gelegt. Die Annehmlichkeiten des modernen Lebens fehlten ihm immer mehr.
    Vor allem fehlte ihm Laura. Der Gedanke an sie schlug ihm an diesem Morgen zum ersten Mal richtig aufs Gemüt. Im bisherigen Verlauf der Reise hatte er zwar immer wieder an sie gedacht, doch er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten, um sie wirklich zu

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