Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
dichten Vorhang aus Blättern und Zweigen. Die Waffe wog schwer in seiner Hand. Bereits nach einer Minute spürte John, wie sein Arm zu zittern begann.
    Wieder ein Geräusch, diesmal näher. Nein – nicht nur ein Geräusch. Mehrere Geräusche. Also kein abgebrochener Ast und kein Tier. Höchstens ein ganzes Rudel von Tieren. Oder aber – und das schien ihm wahrscheinlicher – eine Gruppe Jívaro.
    Ich werde die nächste Stunde nicht überleben, schoss es ihm durch den Kopf. Ich werde in diesem Wald sterben!
    Er verfluchte sich dafür, dass er so dumm gewesen war, an Gordons Experiment teilzunehmen. Verdammte Neugier! Verdammte Abenteuerlust! Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich auf eine Zeitreise einzulassen, noch dazu mittels einer Technologie, die sich erst im Entwicklungsstadium befand? Doch für Reue war es zu spät. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, die anderen Expeditionsteilnehmer zu warnen und anschließend bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, begann John draufloszubrüllen so laut er konnte. Gleichzeitig drückte er den Abzug der Armbrust durch. Surrend schnellte der Bolzen davon, um irgendwo zwischen Blättern und Zweigen zu verschwinden. Ein Aufschrei ertönte, aber John achtete kaum darauf. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Armbrust erneut zu spannen und den nächsten Schuss vorzubereiten. Noch immer brüllte er aus Leibeskräften.
    »Seid Ihr von Sinnen? Stellt Euer Geschrei ein! Und hört sofort auf zu schießen, oder wollt Ihr uns umbringen?« Die Stimme – kräftig und befehlsgewohnt – kam unmittelbar aus dem Dickicht vor John. Er erstarrte und senkte die Waffe. Vor seinen Augen schob sich das Laub auseinander, und hervor trat ein hagerer Mann mit Spitzbart, der ein Pferd an der Leine führte – ganz offensichtlich ebenfalls ein Konquistador. Im Gegensatz zu den einfachen Soldaten, die er im Schlepptau hatte, war sein Brustharnisch reichlich mit Ornamenten verziert, und sein Haupt war eingebettet in eine mächtige Halskrause. Obwohl John dem Mann noch nie begegnet war, erkannte er ihn sofort. Auf zeitgenössischen Darstellungen hatte er ihn oft genug gesehen. Es handelte sich um keinen Geringeren als Francisco de Orellana, Gonzalo Pizarros Cousin, der dem Expeditionstross in einem Gewaltmarsch bis hierher gefolgt war, um ihn zu verstärken.
    »Wart Ihr es, der so gebrüllt hat, Ortega?«, schnauzte Orellana und reckte sein bärtiges Kinn in Johns Richtung.
    Im ersten Moment wunderte John sich, woher Orellana seinen Namen kannte, doch dann erinnerte er sich, dass der Spanier ihn als Abgesandten nach Quito vorausgeschickt hatte.
    »Was ist? Hat es Euch die Sprache verschlagen?«, hakte Orellana nach. »Antwortet gefälligst, wenn ich Euch etwas frage. Habt Ihr so laut geschrien?«
    John begriff, dass sein Verhalten nicht auf Verständnis stoßen würde, was immer er sagte. Also biss er nur die Zähne zusammen und nickte.
    »Und wart Ihr es auch, der auf uns geschossen hat?«, bohrte Orellana weiter.
    John spürte das Verlangen, sich zu rechtfertigen, doch Orellanas starrer Blick ließ ihn innehalten. Ganz offensichtlich wollte der Spanier keine Erklärungen hören, sondern sich nur Respekt verschaffen.
    Hinter sich hörte John Schritte und aufgeregte Stimmen näherkommen – die ersten Reaktionen der Expeditionsteilnehmer auf sein Krakeelen. Aber Orellanas Blick zog ihn derart in seinen Bann, dass er sich nicht davon lösen konnte. Er blieb einfach nur stehen und beobachtete, wie der Spanier mit dem Pferd am Zügel auf ihn zukam. Endlich blieb Orellana stehen, kaum einen Meter von John entfernt. Aus der Nähe war sein Blick geradezu Furcht einflößend. Eisig. Verständnislos. Und auf kuriose Weise unwirklich, denn wie John feststellte, bewegte sich bei dem Spanier nur ein Auge. Das andere blickte ausdruckslos geradeaus.
    Er ist auf diesem Auge blind!, durchfuhr es John. Jetzt erinnerte er sich auch daran, dass er während seiner Promotion darüber gelesen hatte. Drei Jahre vor dieser Expedition, 1538, hatte Orellana an der Seite seines Cousins gegen dessen Erzrivalen Almagro gekämpft und war dabei verletzt worden. Seitdem nannte man ihn hinter seinem Rücken den Einäugigen.
    Doch die Beeinträchtigung seines Blickfelds schien Orellana nicht zu behindern. Jedenfalls hatte es ihn nicht davon abgehalten, sich der Dschungel-Expedition anzuschließen. Der weitere Verlauf der Geschichte würde aus ihm sogar den eigentlichen

Weitere Kostenlose Bücher