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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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vermissen. Erst jetzt, da er auf unbestimmte Zeit in dieser fremden Welt gefangen war, wurde ihm bewusst, wie sehr er an ihr hing. Die Aussicht, sie vielleicht nie wiederzusehen, trieb ihm fast die Tränen in die Augen.
    Erschöpfung, Schmerz und Angst setzten John so sehr zu, dass er den Tag wie im Delirium durchlebte. Mit steifen Gliedern stakste er über Pfützen, abgebrochene Äste und hervorstehende Wurzeln. Von der Farbenpracht und Formenvielfalt der Natur nahm er kaum etwas wahr. Die Welt schien ihm grau, menschenfeindlich und hoffnungslos. Wurde er angesprochen, antwortete er mechanisch. Auf längere Gespräche ließ er sich gar nicht erst ein. Dass er nicht mehr als Schlusslicht eingeteilt wurde, sondern wieder im Zug mitmarschieren durfte, konnte seine Stimmung nicht nachhaltig aufhellen. Zwar fühlte er sich im Schutz der Gruppe etwas geborgener, aber er gab sich keiner Illusion hin: Falls Gaspar de Carvajals Tagebuchaufzeichnungen sich als unvollständig erweisen sollten und die Jívaro einen Angriff starteten, wäre er einer der Ersten, der getötet wurde – aus Mangel an Kampfgeschick. Die spielerischen Übungen auf Caldwell Island konnten niemals die Erfahrung ersetzten, die die anderen spanischen Soldaten in zahlreichen Schlachten gesammelt hatten.
    Ja, ich werde eines der ersten Opfer sein, dachte John mit einem bitteren Lächeln im Gesicht. Aber es geschieht mir recht! Weshalb habe ich mich auch auf dieses aberwitzige Abenteuer eingelassen?
    Andererseits wusste er, dass Gordon ihn niemals zu dieser Zeitreise überredet hätte, wäre er nicht von ihrer Ungefährlichkeit überzeugt gewesen. Auch wenn ihre Freundschaft vorübergehend in die Brüche gegangen war, hätte Gordon ihn nicht absichtlich ins Verderben gestürzt. Außerdem: Welchen Sinn hatte es, das ausgerechnet auf diese unkonventionelle Weise zu tun? Es gab Hunderte von simpleren Möglichkeiten, jemanden loszuwerden. John schüttelte den Gedanken ab. Gordon hatte ihn nicht hereingelegt! Das konnte einfach nicht sein, dafür kannte er ihn viel zu gut.
    Die nächste nennenswerte Rast legte der Zug erst am Abend des darauffolgenden Tages ein. Wieder ritten ein paar spanische Soldaten die Reihen ab und erteilten den Befehl, das Nachtlager aufzuschlagen. Sie sagten, dass das Jívaro-Gebiet nun hinter ihnen liege und die Gefahr eines Überfalls gebannt sei. John sandte ein Dankesgebet zum Himmel und ließ sich am erstbesten Baumstamm zu Boden sinken, so kraftlos und müde fühlte er sich. Endlich würde er die so dringend benötigte Ruhe bekommen, endlich den langersehnten Schlaf, ohne Angst haben zu müssen, den Kopf von einem Eingeborenen abgeschnitten zu bekommen.
    Der Reiter gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon, um Pizarros Befehl weiterzuverbreiten. Noch während John ihm nachsah, spürte er, wie die Müdigkeit von ihm Besitz ergriff und ihn in einen angenehmen Lähmungszustand versetzte. Er beteiligte sich zwar noch beim Aufbau des Lagers, doch während er seinen Schlafplatz errichtete und beim Anlegen der Feuerstellen half, nahm er seine Umgebung nur noch durch den Schleier der Erschöpfung wahr.
    Die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über, als die letzten Vorbereitungen für die Nacht abgeschlossen wurden. Trotz der Müdigkeit wollte John zuerst noch einen Happen essen, bevor er sich schlafen legte. In den letzten beiden Tagen hatte er ausschließlich von dem gelebt, was seine Ledertasche hergab: angeschimmeltes Maisbrot und dazu ein Streifen Pökelfleisch, zäh wie Sattelleder. Daher knurrte John jetzt ordentlich der Magen.
    Kraftlos schlenderte er zu einer Feuerstelle, über der ein großer Topf an einem hölzernen Dreibein hing. Darin köchelte und blubberte eine undefinierbare Brühe, die aussah wie Schlamm, doch für die Nase eines halb Verhungerten roch, als habe ein Fünfsternekoch ein Wunder der Haute Cuisine vollbracht. John kramte Schale und Löffel aus seinem Beutel, griff nach der Schöpfkelle im Topf und nahm sich eine ordentliche Portion, die er an Ort und Stelle im Stehen verschlang. Dass er sich dabei die Zunge verbrannte, zügelte seinen Appetit nicht im Geringsten. Als er seinen Napf geleert hatte, fühlte er sich rundum satt – und noch müder als zuvor. Er ging zu seinem Schlafplatz, hüllte sich in eine Decke und schloss die Augen.
    Von überallher drangen Stimmen zu ihm: das Palaver der Indios, von dem er kein Wort verstand, sowie die Unterhaltungen der Spanier, die zu zweit oder in Grüppchen um die

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