Incognita
Helden dieser Reise machen: Er war der Anführer jener kleinen Gruppe von Männern, die es tatsächlich schaffte, den südamerikanischen Urwald komplett zu durchqueren und schließlich das Mar del Norte , den Atlantik, zu erreichen.
Orellanas chamäleonartiger Blick richtete sich noch immer auf John. Ein paar Sekunden lang geschah nichts, dann holte der Spanier aus und versetzte John eine schallende Ohrfeige. »Für Eure Unbedachtheit und Feigheit!«, zischte er, wobei sich sein gesundes Auge zu einem schmalen Schlitz verengte, was ihm ein gefährliches, geradezu wölfisches Aussehen verlieh.
John war vollkommen perplex. Die Ohrfeige brannte auf seiner Wange, aber weit schlimmer war die Demütigung, die er verspürte. Er hatte einen Fehler begangen, aber musste Orellana ihn deshalb gleich wie einen dummen Jungen behandeln?
Obwohl John wütend war, schluckte er seinen verletzten Stolz hinunter. Wenn er Orellana die Meinung sagte oder ihn gar angriff, würde er auf jeden Fall den Kürzeren ziehen. »Verzeiht mir, Herr«, murmelte er mit gesenktem Blick. »Ich hielt Euch für Wilde, die uns überfallen wollen.«
»Wie Ihr seht, habt Ihr Euch getäuscht.« Noch immer derselbe arrogante Tonfall. John ballte die Fäuste, um seine Wut zu unterdrücken.
Er hörte, wie sich hinter ihm eine Gruppe von Reitern näherte. Als er sich umdrehte, erkannte er Gonzalo Pizarro mit einigen Begleitern, darunter auch Jorge La Roqua. Ohne Rücksicht auf die Schweine- und Lamatreiber zu nehmen, die sich inzwischen zu einer schaulustigen Truppe zusammengefunden hatten, preschten sie mit ihren Rössern heran, so schnell der Urwald es eben zuließ.
»Was ist hier los? Wer ist verantwortlich für diesen Tumult?«, blökte Pizarro. Als er seinen Cousin erkannte, erhellte sich seine finstere Miene augenblicklich. Er sprang vom Pferd, lief auf ihn zu und breitete die Arme zu einer herzlichen Geste aus. »Francisco! Mein lieber Francisco! Wie schön, Euch endlich zu sehen!« Er umarmte Orellana leidenschaftlich und klopfte ihm mit der flachen Hand auf das Rückenteil seines Brustpanzers. »Wir haben Eure Ankunft schon sehnlichst erwartet! Fürwahr, Ihr kommt keinen Tag zu früh. Gerade rechtzeitig, bevor wir ins Herz des Jívaro-Gebiets vordringen.«
Orellana bedachte John mit einem herablassenden Seitenblick. »Zumal durch Ortegas Gebrüll nun auch der letzte Wilde im Umkreis von zwanzig Kilometern weiß, wo wir zu finden sind.«
»Also wart Ihr es, der dieses Gezeter veranstaltet hat?«, knurrte La Roqua, der sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. »Ihr seid eine Gefahr für den gesamten Tross, verdammter Narr! Man sollte Euch an einen Baum fesseln und zurücklassen! Das wäre eine gerechte Strafe für Euch und das beste für uns alle!« Zweifellos meinte er es ernst.
John begriff, dass seine Schonzeit nun endgültig vorbei war. Bisher hatte Pizarro seine Hand über ihn gehalten, weil er formell der Truppe seines Cousins angehörte. Doch nun war Orellana hier – und John hatte es sich bereits mit ihm verscherzt. Würden sie ihn tatsächlich hier zurücklassen? Würde er in diesem Wald sterben, an einen Baum gefesselt, mutterseelenallein, vergessen von der Nachwelt? Allein die Vorstellung – ein Albtraum. Er versuchte sich krampfhaft an das Tagebuch von Gaspar de Carvajal zu erinnern, eines Dominikanermönchs, der den Zug begleitete. Bislang hatte John ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, aber auch er würde sich als einer der wenigen Überlebenden dieser Expedition erweisen. An der Seite von Francisco de Orellana, Hernán Gutiérrez und einer Handvoll weiterer Männer würde er nach vielen entbehrungsreichen Monaten die Amazonas-Mündung erreichen. Und eben dieser Dominikaner hatte ausführliche Notizen über den gesamten Verlauf der Expedition angefertigt. Sein Tagebuch war die wichtigste und ausführlichste Dokumentation dieser Reise. Aber soweit John sich entsinnen konnte, stand in dem Tagebuch nirgends zu lesen, dass ein spanischer Soldat gefesselt im Wald seinem Schicksal überlassen worden war. Oder hatte Carvajal diese unschöne Episode bewusst ausgespart?
»Natürlich habt Ihr recht«, sagte Orellana zu Jorge La Roqua. »Ortega hätte es verdient, hier zurückgelassen zu werden. Aber ich fürchte, dass wir in naher Zukunft jeden einzelnen Mann benötigen werden, um uns gegen die Jívaros zu verteidigen. Wenn Ortega ein paar Wilde tötet, kann es uns nur von Nutzen sein. Und wenn er selbst getötet wird, haben wir nichts
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