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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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brüllte Orellana zu niemand Bestimmtem. Aber genau das war das Problem: Der Feind war unsichtbar, verborgen hinter Bäumen und Sträuchern im Halbdunkel des Dschungels. Umgekehrt schien der Wald den spanischen Soldaten keinerlei Schutz zu bieten. Jedenfalls fühlte John sich wie auf dem Präsentierteller.
    Erneut surrten Pfeile durchs Blätterwerk. Diesmal klang es, als würden Dutzende wütender Hornissenschwärme von allen Seiten zugleich über den Tross herfallen. Neben sich sah John reihenweise spanische Konquistadoren umfallen, tot oder verletzt. John selbst blieb, ebenso wie Francisco de Orellana, wie durch ein Wunder unversehrt.
    Er legte die Armbrust an und schoss aufs Geratewohl in den Wald – ein Akt der Hilflosigkeit. Aber irgendetwas musste er tun. Er konnte schließlich nicht einfach auf dem Boden knien und abwarten, bis er getroffen würde.
    Während er die Armbrust erneut spannte, prasselte auch schon der nächste Pfeilhagel auf die Expeditionsteilnehmer nieder. Soldaten schrien, Hunde kläfften. Pizarros reiterloses Pferd begann plötzlich zu wiehern und sich aufzubäumen. John sah, dass ein Pfeil in seiner zitternden Flanke steckte. Weiter hinten im Zug kreischten die Indio-Träger, die wohl ebenfalls angegriffen wurden. Hinzu kam das Quieken der Schweine und das gequälte Blöken der Lamas. Nichts und niemand war vor dem niederprasselnden Pfeilgewitter sicher.
    Nach einigen weiteren Salven kehrte plötzlich Ruhe ins Chaos ein, ebenso schnell wie es begonnen hatte. John, noch immer unverletzt, traute dem Frieden nicht, aber er hatte Gelegenheit, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Was er sah, ließ ihn schaudern: Wenigstens zwei Drittel der Spanier waren beim Angriff des unsichtbaren Feindes ums Leben gekommen. Selbst Soldaten, die von den Pfeilen nur leicht verletzt worden waren, waren tot oder lagen im Sterben. Dasselbe galt für die Tiere – überall lagen Hunde- und Pferdekadaver.
    Curare!, dachte John fröstelnd – Pfeilgift. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie knapp er dem Tod entronnen war.
    Schon surrte der nächste Pfeilhagel heran. Um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, kauerte John sich wie ein Igel zusammen. Die spitzen Geschosse schlugen rings um ihn herum im lehmigen Boden ein, aber erneut kam er unverletzt davon.
    Lange werde ich wohl nicht mehr solches Glück haben, dachte er mit trockenem Hals. Wenn ich hierbleibe, wird mich früher oder später ein Zufallstreffer erledigen. Durch das Pfeilgift kann mich selbst eine oberflächliche Verletzung umbringen. Ich muss weg von hier, und zwar schnell!
    Mit der Armbrust in der Hand raffte er sich auf und rannte los, so schnell ihn seine Beine trugen. Er sprang über zwei verendete Hunde und einen toten Soldaten und tauchte ein ins grüne Blättermeer. Rasch verlor er die Orientierung, aber das war jetzt nebensächlich. Er ließ sich einfach von seinem Instinkt leiten. Linker Hand wirkte das Gebüsch dornig, also hielt er sich rechts. Als ihm ein umgestürzter Urwaldriese den Weg versperrte, wich er wieder nach links aus. So schlug er Haken um Haken, ohne seinen Lauf zu unterbrechen.
    Hinter sich hörte er ein Geräusch. Hatten die Angreifer ihn entdeckt? Von Panik ergriffen, beschleunigte er seinen Schritt, fest davon überzeugt, in den nächsten Sekunden von einem Giftpfeil in den Rücken getroffen zu werden. Die nackte Angst trieb ihn zur Höchstleistung an, doch der Verfolger ließ sich nicht abschütteln.
    John wechselte abermals die Laufrichtung, stürzte sich ins Blätterwerk eines übermannshohen Farnfelds – und sah sich unvermittelt einem mit roter und blauer Farbe bemalten Eingeborenen gegenüber, der sich dort versteckt haben musste. John erschrak so sehr, dass er das Gleichgewicht verlor und bäuchlings zu Boden stürzte. Als er sich auf den Rücken drehte, stand die imposante Gestalt des indianischen Kriegers unmittelbar vor ihm, das Gesicht zu einer Fratze verzogen, in der Hand einen gespannten Bogen haltend. Die Pfeilspitze zeigte geradewegs auf Johns Kopf.
    Das ist das Ende!, dachte er. In einem letzten Akt der Verzweiflung tastete er nach seiner Armbrust, konnte sie aber auf die Schnelle nicht finden. Offenbar hatte er sie im Sturz verloren. Schicksalsergeben wartete er auf den Tod.
    Dann brach eine weitere Gestalt durchs Blätterwerk: Johns Verfolger, ein Bär von einem Mann – Jorge La Roqua. Mit hoch erhobenem Schwert stürzte er sich auf den Indianer und tötete ihn mit einem

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