Incognita
nicht mehr? War er irgendwann im Laufe der letzten vierhundertfünfzig Jahre untergegangen – und mit ihm das Wissen um die Tätowierungen?
Das Gespräch, das Gonzalo Pizarro mit dem Aparia führte, erregte wieder Johns Aufmerksamkeit.
»Frag ihn, ob er schon einmal vom Reich Eldorado gehört hat«, sagte der Spanier, und Felipillo übersetzte.
Der Alte schüttelte den Kopf.
»Sag ihm, dass wir ein Land suchen, in dem es Gold in Hülle und Fülle gibt.«
Der Aparia und seine beiden Unterhäuptlinge lauschten Felipillos Ausführungen und beobachteten jede seine ausladenden Gesten, die er benutzte, wenn sein Wortschatz versagte. Schließlich tauschten sie vieldeutige Blicke aus, woraufhin der Aparia behäbig nickte. »Curicuri«, sagte er und begann zu erzählen.
Als er geendet hatte, herrschte einen Moment lang Stille.
»Was sagt er?«, drängte Pizarro.
»Er spricht von einem großen See im Wald, an dessen Ufer eine wohlhabende Stadt liegt. Die Napo nennen sie nicht Eldorado, sondern Curicuri. Ihr Häuptling wird jeden Morgen mit einem Puder bedeckt, der ihm den strahlenden Glanz der Sonne verleiht. Und jeden Abend badet der Häuptling im See, um sich den Sonnenglanz vom Leib zu waschen.«
Der Parime-See!, schoss es John durch den Kopf. Es gibt ihn also tatsächlich, ebenso wie Eldorado!
Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, so aufgeregt war er plötzlich. Nie hätte er die Existenz des legendären Goldreichs für möglich gehalten, nicht zuletzt, weil es bis in die Gegenwart hinein unentdeckt geblieben war. Aber war genau das des Rätsels Lösung? Hatten Generationen von Dokumentatoren falsche Niederschriften hinterlassen, um das Geheimnis dieses sagenhaften Schatzes zu wahren? Andererseits: Weshalb hätten sie das tun sollen? Weshalb war nicht einer von ihnen der Verlockung erlegen, sein Wissen wahrheitsgemäß niederzuschreiben und sich damit ewigen Ruhm zu sichern? Das ergab keinen Sinn! Aber im Moment spielte das keine Rolle. John spürte, wie er durch die Ausführungen des Aparia von Abenteuerlust gepackt wurde.
Auch Gonzalo Pizarros Augen leuchteten, bei ihm sah es allerdings aus, als befände er sich im Fieberwahn. Etwas Irres ging von ihnen aus, es war der Blick eines Fanatikers. »Frag ihn, wo dieser See zu finden ist!«, wisperte er dem Dolmetscher zu.
Felipillo wechselte ein paar Worte mit dem Aparia. An der Miene des Übersetzers bemerkte John, dass die Unterhaltung eine unerwartete Wendung nahm: Aus reinem Interesse wurde rasch Skepsis, dann Ungläubigkeit und schließlich sogar blankes Entsetzen, insbesondere, wenn der Alte die Worte Yawara und Uracai benutzte.
»Was ist?« Gonzalo Pizarros Stimme war wieder barsch vor Ungeduld. »Was erzählt er? Wo können wir diesen See und seine Reichtümer finden?«
»Er sagt, das Land, das wir suchen, befindet sich etwa zwanzig Tagesmärsche von hier. Zunächst müssen wir so lange am Flussufer weiter, bis die Hand des Waldes sich warnend aus dem Wasser erhebt …«
»Die Hand des Waldes? Was soll das bedeuten?«
»Soweit ich es verstanden habe, handelt es sich um einen Stein oder einen Baum, der aus dem Fluss ragt.«
»Nun, das dürfte nicht schwer zu finden sein. Wie geht es danach weiter?«
»Wir müssen den Fluss hinter uns lassen und zwölf Tage lang ein Gebiet durchwandern, das der Aparia den Wald der Angst nennt. Dort lebt der sogenannte Uracai.«
Uracai?, dachte John. Auch davon hatte er nie zuvor gehört. Aber nach dem Gesichtsausdruck Felipillos zu urteilen, war dieser Uracai etwas, dem man besser aus dem Weg gehen sollte.
»Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!«, forderte Orellana jetzt von Felipillo. »Wer oder was ist dieser Uracai? 'Ein Mensch oder ein Tier?«
»Weder noch – oder auch beides. Der Uracai ist ein Dämon, halb Mensch, halb Yawara. Das bedeutet in der Sprache dieser Eingeborenen Jaguar. Ein Wesen aus der Schattenwelt, groß, unverwundbar und blutrünstig. Die Verkörperung all dessen, was in diesem Wald böse und grausam ist. Wer sein Revier betritt, dem ist der Tod gewiss.«
John sträubten sich die Nackenhaare, wie früher, als sein Vater ihm vor dem Zubettgehen Schauermärchen erzählt hatte. Zwar glaubte er inzwischen nicht mehr an Geister und Dämonen, aber sein Instinkt sagte ihm, dass die Eingeborenen nicht grundlos vom Wald der Angst sprachen. Auf dem Weg nach Eldorado lauerte etwas in den Tiefen des Dschungels, und er hatte das ungute Gefühl, dass diese Expedition schon bald
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