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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Schauderhaftes. Das Jaguarfell verlieh dem kleinen Greis eine geradezu unheimliche Aura. Während die Konquistadoren an ihm vorbeizogen, funkelten seine Augen eiskalt, und er murmelte immer und immer wieder denselben Satz vor sich hin: »Uracai, tá ka maho  … Uracai, tá ka maho  …« Wie ein Mantra oder ein Gebet.
    Oder wie eine Beschwörungsformel, die an den Dämon des Waldes gerichtet war.
    Die nächsten drei Tage verliefen ereignislos. Der Tross wand sich langsam, aber beständig wie eine riesige Schlange am Ufer des Napo entlang. Das Unterholz war hier weniger dicht als im Waldesinneren, weshalb sie gut vorankamen.
    Die Stimmung unter den Soldaten war besser denn je. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit waren wie weggeblasen, niemand beklagte sich mehr. Auch die Träger und Viehtreiber schienen aufzuatmen. Zwar würden sie weder am Ruhm noch am Reichtum der Spanier teilhaben, aber wenigstens mussten sie nicht länger befürchten, den Wutausbrüchen des enttäuschten Gonzalo Pizarro zum Opfer zu fallen.
    Am Morgen des vierten Tages waren die beiden Napo-Führer verschwunden. Irgendwie musste es ihnen in der Nacht geglückt sein, ihre Fesseln zu lösen. Pizarro nahm den Zwischenfall erstaunlich gelassen und war sich mit seinem Cousin Orellana schnell darüber einig, dass es keinen Sinn haben würde, die beiden Ausreißer zu verfolgen. Sie waren davon überzeugt, Eldorado auch ohne fremde Hilfe zu finden.
    Am Mittag erreichte der Tross eine Stelle, an der ein alter, knorriger Baum auf einer kleinen Insel im Fluss stand. Am Stamm strebten lianenartige Schlingpflanzen wie Adern empor. In etwa vier Metern Höhe ging der Stamm abrupt in eine wulstige, tellerartige Abflachung über, aus der wiederum fünf kräftige Äste im Halbkreis gen Himmel wuchsen. Mit etwas Fantasie konnte man darin durchaus eine warnende Hand erkennen, die sich aus dem Wasser erhob, genau wie der Aparia es gesagt hatte.
    Nach einer kurzen Rast ließen sie den Napo hinter sich und schlugen den Weg ins Waldesinnere ein. Erleichtert stellte John fest, dass der Dschungel sich hier durch nichts von dem unterschied, was er im bisherigen Verlauf der Reise gesehen hatte.
    Am Nachmittag begannen die Hunde jedoch plötzlich unruhig zu werden. Wie auf ein geheimes Zeichen hin fingen sie an zu knurren und zu bellen. Das Verwirrende: Ihre Aggression richtete sich nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern war nach allen Seiten hin gleichermaßen ausgerichtet.
    An der Spitze des Zuges hob Gonzalo Pizarro den Arm und hielt sein Pferd an. Nach und nach kam nun auch der komplette Tross zum Stehen. Die Hunde kläfften noch immer, wobei sie jetzt so heftig an ihren Leinen zerrten, dass ihre Führer alle Mühe hatten, sie zu bändigen.
    John spähte angestrengt in den Wald, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen. Dennoch spürte er die unmittelbare Gefahr wie einen kalten Windhauch auf der Haut.
    Pizarro und Orellana gaben ihren Rössern die Sporen und ritten den Tross ab, bis sie zu den Fußsoldaten stießen. »Spannt die Armbrüste!«, befahl Pizarro. »Die Bogenschützen ebenfalls an die Waffen. Und entzündet ein Feuer für die Arkebusen!«
    Doch dazu kam es nicht mehr, denn genau in diesem Augenblick surrte ein Pfeil wie aus dem Nichts heran und durchschlug mit einem grässlichen Geräusch Gonzalo Pizarros Hals, sodass die Spitze auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. Der Spanier zuckte zusammen. Sein Gesicht bekam einen undefinierbaren Ausdruck, eine Mischung aus ungläubiger Belustigung und Todesangst. Er öffnete den Mund, scheinbar um die nächsten Befehle zu erteilen, doch seinen Lippen entrang sich nur noch ein heiseres Röcheln. Dann hörte John ein wahres Pfeifkonzert, und noch bevor irgendjemand darauf reagieren konnte, durchbohrten drei weitere Pfeile Pizarros Hals. Der spanische Oberbefehlshaber rutschte seitlich vom Sattel und stürzte wie ein Stein zu Boden.
    »In Verteidigungsstellung!«, brüllte Francisco de Orellana, während er sein Schwert aus der Scheide riss. »Wir werden angegriffen!«
    In diesem Moment wurde auch er von einem heransurrenden Pfeil getroffen, allerdings so, dass die Spitze an seinem Brustharnisch abprallte. Orellana schien eine Sekunde lang verwirrt, dann schwang er sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung vom Pferd und kniete sich neben John, der seine Armbrust bereits gespannt hatte und gerade dabei war, einen Bolzen einzulegen.
    »Erst schießen, wenn ein klares Ziel erkennbar ist!«,

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