Incognita
der vier Streiter.
Auf John prasselte eine wahre Flut von Lanzenhieben ein, die er nur mit Mühe abwehren konnte. Die Frau war im Umgang mit der Waffe derart bewandert, dass sie eine Amazone sein musste. Einmal nutzte sie die Lanze wie einen langen Schlagstock, dann stach sie mit der knöchernen Spitze nach John wie mit einem Spieß. Einmal zielte sie auf Johns Kopf, dann wieder auf seinen Körper. Einmal kam der Angriff von rechts, dann wieder von links. Das alles in einem Tempo, das John schier den Atem raubte. Seine Reaktionen wurden träger.
Während er noch damit beschäftigt war, einen Lanzenstoß gegen seine rechte Schulter abzuwehren, zielte die Amazone schon wieder auf den Kopf. Entsetzt stellte er fest, dass er den Angriff diesmal nicht rechtzeitig würde abblocken können. Ihm blieb nicht einmal mehr Zeit, um auszuweichen. Er spürte einen derben Schlag gegen die Schläfe, dann begann die Welt um ihn herum, sich zu drehen und im Schatten zu versinken.
Seine Benommenheit dauerte nur Sekunden und doch lange genug, um Jorge La Roquas Schicksal zu besiegeln. Als John die Augen aufschlug, fiel die Amazone dem Spanier im wahrsten Sinn des Wortes in den Rücken. Die Lanzenspitze traf offenbar einen Schwachpunkt an seiner Rüstung, denn sie durchstieß das Metall mit erschütternder Leichtigkeit. La Roqua verkrampfte sich durch den unerwarteten Schmerz, was ihn einen Moment lang von seinem eigentlichen Gegner, dem Napo-Krieger, ablenkte. Prompt traf ihn ein Knüppelhieb mit voller Wucht gegen den Schädel. Er geriet ins Taumeln, wankte zur Seite. Die Frau hinter ihm rammte die Lanze noch tiefer in die Wunde. La Roqua stieß einen Schrei aus. Der Versuch, sich umzudrehen, misslang, die Amazone stemmte sich mit zu viel Kraft dagegen. Ein weiterer Keulenschlag des Napo-Kriegers riss Jorge La Roqua nun endgültig von den Beinen. Knochen knackten, vermutlich sein Genick. Er ließ das Schwert fallen und stürzte der Länge nach zur Seite wie ein gefällter Baum.
Das alles war so schnell gegangen, dass John gar nicht hatte eingreifen können. Jetzt fiel die Starre jedoch wie eine gesprengte Fessel von ihm ab. Er griff nach seinem Schwert und kam auf die Beine. In seiner Schläfe pochte der Schmerz.
»Hey!«, brüllte er, wütend über den grausamen Tod La Roquas. »Kommt her und versucht es mit mir!«
Er wusste, wie lächerlich das klang, und realistisch betrachtet würde er die nächste Minute wohl kaum überleben. Aber er wollte wenigstens stolz und tapfer untergehen, sein Leben so teuer wie möglich verkaufen, wenn er es schon nicht retten konnte.
Der Napo wandte sich mit erhobener Keule John zu. Die Amazone versuchte, ihre Lanze aus La Roquas schlaffem Körper zu ziehen. Als das nicht gelang, zückte sie aus ihrem Lendenschurz ein Messer.
Unglaublich, dass ich auf diese Weise sterben werde, dachte John. Er hatte immer geglaubt, dass er eines Tages bei einem Motorrad- oder Tauchunfall sterben würde. Seit er zumindest auf dem Papier den Vorsitz der McNeill Group übernommen hatte und sein ehemals wildes Abenteurerleben ruhiger geworden war, hatte er sich sogar vorstellen können, irgendwann einmal als alter Mann friedlich in seinem Bett zu entschlafen. Aber mitten im Dschungel von einem Eingeborenen und einer Amazone getötet zu werden, noch dazu im sechzehnten Jahrhundert – wer hätte schon damit gerechnet? Es war erschreckend und faszinierend zugleich.
Er dachte an Gordon, durch den diese missglückte Zeitreise überhaupt erst möglich geworden war, und natürlich an Laura, die er für immer in einer anderen Welt zurücklassen musste. Das war für ihn das Schlimmste. Würde sie jemals erfahren, was mit ihm geschehen war?
Er brachte sein Schwert in Verteidigungsstellung, fest davon überzeugt, dass der Napo-Krieger und die Amazone sich jeden Moment auf ihn stürzen würden, doch dann erklang plötzlich ein dumpfer, gedehnter Ton aus der Ferne – der Ruf eines Horns. Offenbar war es für Johns Gegner das Rückzugssignal, denn kaum hatten sie es vernommen, kümmerten sie sich nicht weiter um den Kampf, sondern machten sofort kehrt und eilten in die Richtung, aus der sie gekommen waren. John sah ihnen ungläubig hinterher. Erst, als sie hinter dem Abhang verschwunden waren, begann er, sein Glück zu fassen.
Gott im Himmel, ich danke dir, dachte er. Das war wirklich in allerletzter Sekunde!
Sein Blick fiel auf Jorge La Roqua. Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, zog der Leichnam ihn an wie ein
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