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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Bekanntschaft damit machen würde.

Kapitel 15
    Um die Soldaten, Träger und Viehtreiber nicht unnötig zu erschrecken, befahl Pizarro allen Teilnehmern der nächtlichen Unterhaltung, Stillschweigen über den Uracai zu wahren. »Dieser Dämon ist nur ein Ammenmärchen!«, behauptete er mit überzeugter Stimme. »Eine Erfindung des Volks von Eldorado, um sich vor jenen zu schützen, die es auf ihr Gold abgesehen haben. Ich will nicht, dass unsere Leute durch eine lächerliche Gruselgeschichte jeglichen Mut verlieren!«
    Er räumte zwar ein, dass er es für durchaus möglich, ja sogar für wahrscheinlich hielt, dass Menschen, die in der Vergangenheit versucht hatten, Eldorado zu finden, im Wald der Angst gewaltsam ums Leben gekommen waren. Aber ein überirdisches Wesen, noch dazu unverwundbar – das war ihm dann doch zu weit hergeholt.
    John teilte seine Meinung vollkommen. Sie schien ihm plausibel. Einige gewöhnliche Todesfälle waren im Lauf der Jahre und Jahrzehnte zu einem Dämonenmythos aufgebauscht worden – entweder durch gezielte Gerüchte, die von den Bewohnern Eldorados zur Abschreckung verbreitet worden waren, oder durch die Tendenz, bei mündlicher Überlieferung Harmlosigkeiten facettenreich auszuschmücken. So war aus irgendeinem Raubtier über Generationen hinweg eine Menschen fressende Bestie und schließlich ein Dämon geworden. Dieser Dschungel war schließlich prädestiniert dafür, Urängste zu wecken und die Ausgeburten der eigenen Fantasie in jede Nebelschwade und in jedes Schattenspiel hineinzuinterpretieren.
    Als Pizarro nach der Unterhaltung mit dem Aparia vor die große Rundhütte trat und die Konquistadoren zusammenrufen ließ, verschwieg er ihnen zwar die Uracai- Legende , doch er verkündete voller Stolz, wie nah sie Eldorado gekommen waren. Um die frohe Botschaft gebührend zu feiern, ließ er seine Männer einige Fässer Wein und Rum öffnen – nicht so viel, dass Gefahr bestand, die Kontrolle über das Dorf zu verlieren, aber genug für ein bisschen Ausgelassenheit.
    Die Euphorie der Spanier in Verbindung mit dem Alkohol, der trotz Pizarros gegensätzlicher Anweisung reichlich floss, sorgte dafür, dass die anfängliche Ausgelassenheit bald in herrschaftliche Willkür umschlug. Man ließ sich von den Napo nach Lust und Laune Wein und Rum nachschenken oder Früchte zur Abrundung des Festessens servieren. Wem der Sinn danach stand, ließ die Eingeborenen auch singen oder tanzen. Wenn sie die Anweisungen nicht sofort verstanden, schlug man sie wie Sklaven. Und natürlich dauerte es nicht lange, bis die Spanier begannen, sich an den Dorfschönheiten zu vergreifen. Allein oder auch zu mehreren griffen sie sich Frauen und Mädchen, um wie wild gewordene Tiere über sie herzufallen. Leisteten sie Gegenwehr, gingen sie umso brutaler mit ihnen um. Bald war der Wald von Angst- und Schmerzensschreien erfüllt. Als ein paar Stammeskrieger einschreiten wollten, um ihren Frauen und Töchtern zu helfen, wurden sie kurzerhand umgebracht. Für die Napo wurde jene Nacht zum Desaster.
    Am kommenden Morgen erteilte Pizarro den Abmarschbefehl. Nachdem die Bedürfnisse seiner Männer in jeglicher Hinsicht befriedigt waren, wollte er so schnell wie möglich nach Eldorado aufbrechen. Seit Monaten zogen sie nun schon unter widrigsten Umständen gen Osten, ohne einem greifbaren Erfolg näherzukommen. Jetzt endlich schien das Blatt sich zu wenden. Das Glück war nur noch zwanzig Tagesmärsche entfernt.
    Als Gegenleistung dafür, nicht noch mehr Napos zu töten, verlangte Pizarro vom Aparia zwei Krieger als Führer. Während er sie fesseln und an sein Pferd anbinden ließ, damit sie nicht fliehen konnten, verzogen die beiden keine Miene. Sie machten einen gleichgültigen Eindruck, so, als hätten sie sich bereits in ihr Schicksal ergeben, aber wer konnte schon wissen, was sich wirklich in den Köpfen dieser stolzen Eingeborenen abspielte?
    Als der Zug losmarschierte, fühlte John sich innerlich taub und leer. Sie waren in ein kleines, blühendes Dorf mitten im Wald eingefallen und ließen es als Stätte des Grauens zurück. Dichter Nebel waberte über den Boden, aus den Hütten tönte noch immer das klägliche Wimmern der Frauen.
    Am Dorfrand stand eine lange Reihe von Napo-Kriegern, in ihrer Mitte der Aparia, der an diesem Morgen einen Umhang aus Jaguarfell angelegt hatte. Der Schädel des Tieres thronte auf seinem Glatzkopf, die Vorderpranken hingen ihm locker über die Schultern. Der Anblick hatte etwas

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