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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Stelle um.«
    Der Uniformierte lässt meine Handgelenke los. Seine kurzsichtigen Augen strahlen mich hinter Lupengläsern an. »Gehen Sie heute Abend zum Darshan in die große Versammlungshalle. Da zeigt sich der Guru seinen Jüngern. Manchmal beantwortet er auch Fragen. Vielleicht spricht er ja zu Ihnen.«
    »Und wenn nicht?«
    »Schreiben Sie ihm ein Fax. Hier ist die Nummer.«
    Aber auch beim Darshan komme ich dem Sai Baba nicht näher. In einem silbernen Kleinwagen fährt der Vielverehrte in die Halle ein. Im Rollstuhl manövriert eine Helferin den Greis über einen roten Teppich in ein zweistöckiges, von blaugelbem Zierrat besetzten Balustraden umgebenes Rund, den innersten Tempel an der Stirnseite der Halle. Mit regungslosen Gesichtszügen wird der Sai Baba auf einen Platz unterhalb einer Ganesh-Statue und zweier Reliefs des tanzenden Gottes Shiva gerollt.
    Aber der Meister zeigt sich mir nur halb. Wie ich mich auch recke und strecke, zwischen uns ist in jeder Position eine der mannsdicken rosafarbenen Marmorsäulen, die die zehn Meter hohe, in der Mitte von einer Glaskuppel umwölbte und mit Kronleuchtern versehene Stuckdecke tragen. Ich versuche dichter heranzukommen. Doch die vordersten Reihen auf dem kalten, weißen Marmor sind bis auf den letzten Zentimeter von
weiß gekleideten Jüngern besetzt. Und die komplette rechte Seite der Versammlungshalle ist allein den Frauen vorbehalten. Als ich mich hinstelle, um durch die Gitter über den mittleren Bereich hinwegzuspähen, wo eine mobile Krankenstation und ein altertümlicher Spritzenwagen in einer halb versenkten Garage parken, springen sofort zwei der Ashram-Polizisten auf und weisen mich energisch auf meinen Platz zurück.
    Der Darshan ist unspektakulär. Der Sai Baba sitzt versunken im Kreise von Priestern mit europäischen, indischen und ostasiatische Gesichtern unter dem mit goldenen Pfauen verzierten, hellblauen Dach des zentralen Tempelrunds und blickt ein paar Treppenstufen hinab auf die Hundertschaften Jünger, die gekommen sind, ihn zu sehen. Gejagt von rasantem Trommelrhythmus, stimmen die frommsten Jünger Bhajans Lieder der Hingabe an, um dem Götterpaar Sita und Ram zu huldigen. Die Gesänge wechseln sich ab mit kurzen Vorträgen eines Priesters, der die Essenz der Bhagavadgita erklärt: Bhakti-Yoga. Sich dem Herrn liebevoll hinzugeben, sagt er, ist so gut wie jede andere Form des Gottesdienstes. Der Weg der Liebe führt genauso zu Gott wie der Weg der Erkenntnis, der Weg der richtigen Taten und der Weg der geistigen Entwicklung.
    Die Hingabe der Jünger ist begrenzt ekstatisch. Neben mir hockt ein abenteuerlich mit den Gesichtsmuskeln zuckender jugendlicher Bengale, der ständig arhythmisch klatscht und sich auf den Boden wirft. Ein asthmatisch hustender Althippie singt jede Silbe der Lieder mit. Einige Westler fallen mit geschlossenen Augen auf mitgebrachten Sitzkissen in innere Verzückung. Aber die indischen Anhänger verharren weitgehend stocksteif im Schneidersitz, manche halten dabei schlafende Kinder im Arm.
    Der Baba sitzt stumm und regungslos da. Bis ein Klingeln ertönt, der Kleinwagen angelassen wird, der Rollstuhl über
eine Holzrampe hineinrollt. Die Jünger springen auf und blicken dem Auto hinterher, die Herren links, die Damen rechts. Dann ist der Meister fort.
    Am Ausgang des Ashrams entdecke ich Alan. Er spricht mit einem europäischen Zopfträger in grauer Jogginghose. »Kommt, wir trinken noch eine Cola«, sagt er.
    Wir setzen uns in den kleinen Getränke- und Süßigkeitenladen von Alans Bekanntem Ragu, der umgehend versucht, mich mit einem Prospekt zu Spenden für die Gehörlosenschule, an der er vormittags arbeitet, zu bewegen. Der Zopfträger heißt Jamie. Er setzt sich auf einen weißen Plastikstuhl, schaut auf den gestampften Lehmboden und massiert seinen großen Zeh, der aus einem Badelatschen ragt. Er sieht betrübt aus, niedergeschlagen.
    Umso lebhafter ist Alan. »Ich bin schon früh auf den Hippiezug aufgesprungen«, erzählt er. »Meine Eltern sind Atheisten, mein Vater war bei der Air Force. Die sind vor Lachen von den Stühlen gefallen, wenn ich ihnen von Gott erzählt habe.« Unter Alans T-Shirt schaut ein misslungenes Tattoo von einem Adler, der den Erdball in den Fängen hält, hervor. »Ich habe schon mit fünfzehn Jahren Zen gelernt. Vor siebenundzwanzig Jahren, in den besten New-Age-Zeiten, war ich dann das erste Mal hier. Und ich war so beeindruckt, dass ich Angst bekam. Europäer haben ein Problem:

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