Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Sie verbinden Gott mit Strafe.«
Also floh Alan vor der Anziehungskraft des Sai Baba nach Bombay, nach Kalkutta, nach Bangalore. Er arbeitete in Diamantenminen in Venezuela und entdeckte, zurück in seiner Heimatstadt London, dass er zum Tanzen berufen war. »Von einem Tag auf den anderen. Ich wurde ein Star, ich tanzte in den besten House-Clubs der Stadt. Bis ich genug hatte.« Er habe ein Jahr Pause gebraucht vom Stadtleben, dann noch
eins. »Dann bin ich wieder hierhergekommen. Zurück nach Indien. Weil der Baba mich nicht loslässt.«
Ragu verkauft über den Tresen eine Mineralwasserflasche an ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, das Englisch mit russischem Akzent spricht. Endlich bricht auch Jamie sein Schweigen: »Nachts holen sie in den Pilgerunterkünften die Balalaikas raus«, wirft er ein. »Die Russen sind hier in der Überzahl. Der Kommunismus und Putin haben ihnen die Seele gestohlen.« Er sei Schriftsteller, sagt Jamie. »Früher habe ich Dramen geschrieben, jetzt schreibe ich lustige Geschichten. Weil sie mich selber zum Lachen bringen.«
»Hast du den Sai Baba jemals persönlich getroffen?«, frage ich.
Jamie setzt ein Grinsen auf. »Er spricht regelmäßig mit mir. Wenn ich schlafe. Er hat mich befreit. Von den Drogen, von den Frauengeschichten. Er hat mich zur Quelle des Ganges geführt, und ich habe den Lauf des heiligen Flusses angehalten wie der Gott Shiva. Er hat vor meinen Augen Perlen aus heiliger Asche gezaubert.«
»Ich habe vergeblich versucht, zu ihm vorzudringen«, sage ich.
»Vielleicht waren deine Gebete nicht stark genug.«
Oder waren sie es doch? Nach zwei Tagen verlasse ich Puttaparthi. Das Fax, das ich noch in der Stadt an den Sai Baba geschrieben habe, wurde nie beantwortet. Aber aus unerfindlichen Gründen hat mich der Swami doch berührt. Obwohl Bhakti-Yoga eigentlich nichts für Besserwisser wie mich ist. Jetzt rufe ich höflich » Sai Ram «, wenn ich in die Dörfer komme. Und alle grüßen und winken fröhlich zurück.
Heimwärts
Das Hinterland von Andhra Pradesh liegt im Windschatten des indischen Wirtschaftswunders. Im Zentrum der Provinzstädte Dharmavaran, Anantapur und Tadipatri säumen bautechnisch bedenkliche Ladenzeilen kilometerlang die offene Kanalisation. Motorrad- und Fahrradläden reihen sich an Autowerkstätten und Geschäfte für Landwirtschaftsbedarf, in denen Bayer und Monsanto Saat und Dünger verkaufen. Ansammlungen von Apotheken ballen sich um heruntergekommene Augen- oder Entbindungskliniken. Die Versicherungsbüros von Bajaj Allianz finden sich zumeist in den Obergeschossen, Nähereien und Schustereien, in denen halb nackte Arbeiter auf dem Boden hocken, stets in den Erdgeschossen. In Tamil Nadu war das Elend über das ganze Land ausgeschüttet, im Flächenstaat Andhra Pradesh scheint es sich in den Städten zusammenzurotten. Ich bin froh, wenn ich lange vor Sonnenaufgang in die Weite jenseits der Stadtgrenzen aufbreche, um im Takt meiner Schritte dem endlosen Asphaltband der Landstraße zu folgen, das durch die Hügel mäandert. Unter dem weiten Himmel. Über die rote, dürre Erde.
In der Stadt Dharmavaran kaufe ich an einem Abend ein paar Guaven und Bananen. In einer Ladenzeile entdecke ich den unscheinbaren Eingang zu einer Moschee. Ich steuere hinein. Ein Vollbärtiger stellt sich vor das Tor.
»Was ist in der Tüte?«, will er wissen.
»Nur Früchte«, sage ich und merke, wie leicht mir die Worte auf Urdu von den Lippen gehen. »Mein bescheidenes Frühstück.«
Er inspiziert den Inhalt der Plastiktasche kurz, aber gründlich. Als könnte ich ein Terrorist aus den USA sein. Dann nickt er mich hinein. Im Inneren der Moschee sehe ich: nichts. Ein großer, leerer Gebetsraum mit einem Koranspruch an der grün lackierten Wand über zwei Reihen abgewetzter Gebetsmatten. Vergitterte Fenster. Ein Tor aus Metall. Was für ein Gegensatz zu den götter- und dämonenschwangeren Tempeln Tamil Nadus, denke ich. Zum neohinduistischen Barock des Sai Baba. Was für ein vertrauter Rationalismus.
Aus purer Sympathie verspeise ich neben der Moschee ein sehr muslimisches Biryani, gewürzten Reis mit Hammel. Mit einem Bauern am Nachbartisch versuche ich mich an einem Gespräch über die unterschiedlichen Grade der Mechanisierung der Milchwirtschaft in Niedersachsen und Andhra Pradesh. In einem Friseurstudio lasse ich mir von einem nervösen Barbiersgehilfen bei der Rasur fast die Nase kastrieren. Zur Desinfektion hält er mir rasch einen faustgroßen,
Weitere Kostenlose Bücher