Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
beißenden Seifestift an den Schnitt. Mit einem kleinen Pflaster im rechten Nasenflügel falle ich in mein Hotelbett. Auf dem Weg in das Herz Indiens fühle ich mich ein ganz kleines Bisschen, als käme ich nach Hause.
In Anantapur treffe ich im »China-Basar«, der vollgestopft ist mit batteriebetriebener, blinkender Plastikware von Elvis bis zum Affengott Hanuman, einen jungen Mann namens Prasad. Er zeigt mir sein Geschäft in einem Obergeschoss in einer Seitenstraße, das aus wenig mehr als einem großen leeren Raum besteht. Im Eingang ein Tresen mit einem Computer, in der Mitte ein silberner Kühlschrank, weiter hinten eine Bettstatt
aus Laken auf dem Linoleumboden. Er sei Anwalt, aber jetzt handele er auch mit PCs und anderen Elektroartikeln. »Die Ware kommt in den nächsten Tagen.«
Wir setzen uns in ein Restaurant, und Prasad weist die Bedienung an, Teller und Becher noch einmal gründlich zu waschen, bevor mir serviert wird. Er beobachtet, wie ich Berge von Reis, Brot, Gemüse und Linsen verschlinge. »Ich esse später«, sagt er. Ich ahne, dass er Brahmane ist. Vielleicht hat er Angst, das Essen könne unsauber sein. Vielleicht befürchtet er sogar in ganz traditioneller Denkweise, dass es von einem Kastenlosen zubereitet wurde.
Wir sprechen über die Entwicklung Indiens. Sein Land werde bald so stark sein wie die USA, sagt er. »China und Indien werden die wichtigsten Nationen der Welt sein. Die Dinge wiederholen sich. Vor zweitausend Jahren waren wir eine Hochkultur und in Europa lebten die Wilden im Busch.« Er redet über die indische Mondsonde und die »Innenwelt«, in der unsere Seele durch Gottes Kraft wie ein Magnet mit Ihm verbunden sei. Er spricht von der »Außenwelt«, vom Universum, darüber, wohin sich das Licht ausdehnt und wann die Menschen den Mars besiedeln werden. »Ich hätte gern ein Teleskop, um nachts in die Sterne zu schauen.« Er kommt mir vor wie ein Priester des IT-Zeitalters, der vor mir die metertiefen Schichten und unglaublichen Interpretationen seiner Religion ausbreitet. Fantastisch und faszinierend zugleich.
Was hatten die Muslime diesen Religionen entgegenzusetzen, frage ich mich, die mittelatlerlichen arabischen Missionare im Süden und nach ihnen die türkischen und monogolischen Eroberer im Norden? Zwar flohen die armen Inder aus dem Kastensystem in ihre Hände. Aber gleichzeitig lebte der Hinduismus in vielen Formen des indischen Islam weiter. Er befruchtete die Religion der Eindringlinge mit seiner Philosophie
und Kunst. Die muslimischen Mystiker übernahmen die Gottesliebe der indischen Bhakti-Bewegung, sie besangen Allah mit Liedern in Hindi. Und in der Gegenrichtung eroberten persische Musik und Tischsitten die Höfe der einheimischen Fürsten. Weil dem Hinduismus keine philosophische Idee und kein Gotteskonzept fremd ist, entstanden schließlich Mischreligionen wie der Glaube der Sikhs. In der Mogulära vereinten sich die beiden Religionen zu einer Kultur, die vor allem spektakuläre Bauwerke wie den Taj Mahal hervorbrachte.
Doch der Hinduismus selbst, der alles Andersartige, alles Eindringende über Jahrtausende hinweg ganz einfach geschluckt hat, ist bis heute rätselhaft geblieben. Unergründlich und komplex. Zumindest für uns Europäer.
Uns ist die muslimische Kultur leichter zugänglich, ganz einfach weil sie der christlichen Tradition verwandt ist. Der Hochburg des Islam in Zentralindien laufe ich jetzt entgegen: Hyderabad, einer Metropole voll muslimischer Geschichte. Es ist nicht mehr weit bis dahin.
Freiluftgefängnis
Auf der Wanderung durch das zentrale Hochland lerne ich die Sprache des indischen Hupens. Ein kurzes Tröten bedeutet »Achtung«, ein langes warnt: »Aus dem Weg!« Oft folgt ein drei- bis vierfaches Überholmanöver, das die gesamte Straßenbreite einnimmt.
An einem frühen, diesigen Morgen weiche ich vor den Toren der Stadt Anantapur einem entgegenkommenden Tanklaster aus. Er überholt einen Ochsenkarren und zwei Milchkannen transportierende Radfahrer, die ihrerseits von einem Maruti-Minibus passiert werden. Fast springe ich in ein Schild mit der Aufschrift »Open Air Jail«. Ich rätsele, auf welche Seite der Straße es weist. Durch den dichten Nebel führt links eine gepflegte Allee in eine parkähnliche Anlage. Auf der rechten Straßenseite zweigt eine staubige Piste von der Hauptstraße ab. Ich entscheide mich für die Piste.
Der unbefestigte Weg führt vorbei an einem kleinen Dorf, aus dem mir ein Mann in rotem
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