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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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befahrene Ausfallstraßen formen sich zu einem T unter einem zentralen Hügel. Ich komme im Hotel Balaji Deluxe unter, das den letzten Teil seines Namens zumindest für das delikate Gemüse verdient, das ich mit Reis und Fladenbrot in meinem Zimmer verzehre, während ein riesiger Makake mit grauem Backenbart hinter den Gitterstäben des Fensters herumzappelt. Der Primat stiert mich an und zieht vor Hippeligkeit und Gier fast den kompletten
geblümten Vorhang durch die zerschlagenen Fensterscheiben. Ich stelle das Metallgeschirr in den Flur, verscheuche den alten Affen mit lautem Schreien und verschließe, bevor ich das Zimmer verlasse, die Riegel des Gitterfensters. Das denke ich jedenfalls.
    Unterhalb des Tempelberges finde ich eine entzückende Altstadt. Fein gefegte, mit Steinplatten gepflasterte Gässchen. Offene, bunt bemalte Holztüren. Geranien in Töpfen und Konservendosen auf den Fensterbänken. Miniaturgärten hinter Steinmauern, in denen gerade die Saat ausgestreut wird.
    Ich steige den Berg hinauf. Das Land zu meinen Füßen liegt unter einem nachmittäglichen Dunstschleier. Am Horizont streben Hügelketten nach Nordwesten und Nordosten. Aber dazwischen, wo meine Route verläuft, verliert sich das Mosaik von Feldern rund um den Hügel in der flachen, braunen Steppe.
     
    Ich studiere die Karten des Great Trigonomical Survey und kann den Namen Chintamani nicht finden. Aber ich identifiziere einen unbezeichneten Punkt exakt auf meiner geografischen Position, der als Ausgangspunkt der Dreiecksmessungen eingetragen ist. Genau hier müssen die Wissenschaftler gesessen haben. Sie sind frustriert, das Klima in der Region setzt ihnen zu. Hat Lambton Anfang 1810 noch notiert, er hoffe, im selben Jahr die »Vermessung durch die Mitte der Halbinsel, von den nördlichen Grenzen Mysores bis zu den Ufern des Krishna-Flusses auszuweiten«, so muss er bereits im September 1811 die East India Company darum bitten, seine Mitarbeiter noch länger zu beschäftigen: »Das schlechte Wetter und der ständige Nebel, der die Bergspitzen verdeckt, haben den Fortschritt erheblich behindert.« Das Unternehmen wird zunehmend kostenintensiv.
    Vielleicht ahnt William Lambton auch, dass ihm noch mehr Schwierigkeiten bevorstehen: Etwa 160 Kilometer nördlich von Bangalore begann damals das Reich des Nizam von Hyderabad. Madras ganz im Süden wurde schon lange von den Briten regiert, und Mysore unterstand den Kolonialherrschern indirekt im Rahmen einer »untergeordneten Allianz«. Aber für die Gebiete des Nizam würden sie erstmals eine Sondererlaubnis benötigen. Denn sie waren berüchtigt, wie Lambton schreibt, »für die Plünderbanden, die in Abwesenheit der Armee diesen Landesteil heimsuchen«.
     
    Wo vor zweihundert Jahren ein Theodolit der britischen Vermesser gestanden haben könnte, ragt jetzt ein Antennengeäst vom Bungalow der Police Wireless Station in den Himmel. Daneben erhebt sich ein kleiner, turmartiger Tempel mit einem spitzen Dach über ein niedriges Gebäude, die Unterkunft der Priester. Ein athletischer junger Mann in kurzer blauer Hose übt den Stockkampf; einhändig lässt er eine Bambusstange über den Kopf kreisen. Auf einem kleinen Spielplatz zwischen Eukalyptusbäumen sausen drei kleine Kinder eine Rutsche hinunter. Auf einer Betonbank schläft ein Priester mit nacktem Oberkörper. Den Ritualdienst hat er einer Maschine überlassen: Im Tempel entdecke ich in einer Nische einen gusseisernen Automaten mit einer Mechanik, die den Schlegel einer Trommel und eine kupferne Klingel in Gang setzt.
    Über einen Teppich von toten Rinden und trockenen Eukalyptusblättern stiefele ich in der Dämmerung den Berg hinab. Als ich in mein Hotel zurückkomme und die Zimmertür öffne, blicke ich in zwei erschreckte Augen. Der alte Affe hockt auf meinem Tisch, eine gepellte Orange in der Hand. Fruchtschalen und Kekspackungen sind über das Doppelbett verstreut,
mein Kulturbeutel ist zerwühlt, die Zahnpasta herausgedrückt, die Packung Schmerztabletten zerfetzt. Entsetzt fixiere ich die Kreatur. Sie glotzt zurück und faucht. Sekundenlang starren wir einander in die aufgerissenen Augen. Dann erst nehme ich die Arme hoch, ich brülle und trommele mit den Füßen auf den Steinboden. Die Orange im Mund, rast der Affenmann zu jenem Gitterfenster hinaus, das ich beim Verlassen des Zimmers offenbar nicht ver- sondern entriegelt habe.

Gott gibt keine Audienz
    Hinter Chintamani beginnt die Steppe. Drei Tage lang wandere ich durch

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