Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Trainingsanzug im Zeitlupentempo entgegenjoggt, und an einem Knick, in dem Dutzende unbenutzte Kondome herumliegen, aufgerissen mitsamt den Verpackungen, als hätte jemand nicht gewusst, was damit anzufangen ist. Aus dem satten Buschwerk jenseits des Dorfes erheben sich hellgraue Mauern eines Gebäudes, umgeben von einem breiten Betongraben, in dem trübes Wasser steht. Beim Näherkommen fliegt ein weißer Vogel aus der stinkenden Suppe auf.
Hinter einem unbesetzten Wachhäuschen betrete ich den äußeren Hof. Er ist säuberlich gefegt. In der lauen Brise hängt schlaff die indische Fahne. Um die geölten, glänzenden Angeln des gewaltigen Haupttors, von dem der grüne Lack blättert, surren dicke Wespen im Morgenlicht. Ich klopfe an ein winziges Sprechfenster in einer schmalen Tür, die in das Tor geschnitten ist. Sofort öffnet ein Wächter. Er könne mir keinen Zugang gewähren, sagt er und weist auf eine Betonbank unter zwei alten Akazien, wo ich warten soll. Ich setze mich hin und habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht aus der improvisierten Zeltkonstruktion, die sich über dem Metalltor hinter ein paar Sandsäcke duckt. Vielleicht durch das Sprechfenster in der schmalen Tür.
Ein Polizist mit einem Fahrrad rollt in den Hof. Das Tor geht auf, er schiebt hinein, es schließt sich wieder. Ein unrasierter Alter mit Papayas auf dem Gepäckträger und einem Netz im Rahmenkreuz bremst sein Fahrrad vor der Bank. Er ruft die Mauer hinauf. Neben der Zeltkonstruktion erscheint ein fröhlich gestikulierender Wächter. An einem Seil lässt er eine Leinentasche hinab. Der Alte schlurft hinüber und legt drei Papayas hinein, der Wächter zieht die Ware die Mauer hoch.
Die Tür im Metalltor öffnet sich. Eine imposante, massige Erscheinung tritt in den Hof, ein Mann wie ein Stier. Er brüllt den Wächter über sich an. Umgehend fällt ihm das Seil von der Mauer vor die geputzten Kunstlederstiefel. Der Alte klaubt die drei Früchte aus der Plastiktüte, hastet zurück zu seinem Fahrrad und legt die angeschlagenen Papayas wieder in den Korb.
Der Stiermann winkt mir zu. »Kommen Sie rein.« Er stellt sich als Gefängnisleiter vor, Vijay Chowdary. Er wirkt wie eine Mischung aus wilhelminischem Polizeihauptmann und Zirkusdirektor. Der Bart ist gezwirbelt, die Brust presst er
nach vorn, vier Streifen glänzen auf seinen Schultern. APJS steht darunter, Andhra Pradesh Jail Security. »Wir haben keine Geheimnisse«, sagt Chowdary und führt mich im Paradeschritt, ein knackendes Funkgerät im weißen Lackgürtel, zwischen akkuraten Geranienbeeten über von weißen Kalkstreifen markierte Sandwege zu den einzelnen Abteilungen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, in Deutschland an die Tür einer Haftanstalt zu klopfen und zu fragen, ob man sich mal eben umschauen dürfe. In Indien ist es leicht, Zugang zu den geheimsten Orten zu bekommen. Sondergenehmigungen sind in diesem korrupten Land bis heute Vertrauenssache, eine persönliche Angelegenheit zwischen Ehrenmännern. Ein Handschlag genügt. Und ein Fremder ist natürlich eine Attraktion, eine harmlose, weil außenstehende. Ein Westler in der indischen Provinz wird oft hofiert, als wäre er ein exotischer Prinz.
»In diesem Gefängnis haben wir derzeit zweihundertdreiundfünfzig Insassen«, sagt Chowdary. »Manchmal sind es bis zu vierhundert. Die meisten sind wegen Mordes oder versuchten Mordes hier. Sie wohnen in Trakten, die nach indischen Flüssen benannt sind: Kaveri, Krishna, Godavari, Tapti, Narmada, Yamuna, Ganga.« Chowdary spricht so schnell, dass er klingt wie ein übereifriger Geografieschüler, der seine Hausaufgaben aufsagt. »Wir haben auch einen separaten Trakt für Frauen.«
Dessen Metalltor ist blau-gelb lackiert. Zwei Wächterinnen mit strengen Dutts unter beigefarbenen Mützen stehen davor stramm. »49 Insassen, ein Kind« steht auf einer Tafel. Beim Eintreten stoße ich mir am niedrigen Rahmen so heftig den Kopf, dass ich auf den Rücken falle. »Sind Sie verletzt?« Chowdary zieht besorgt die Stirn in Falten. »Wir haben einen hervorragenden Arzt.«
Auf zwei Veranden versammeln sich etwa zwanzig Frauen aller Altersstufen zu kleinen Gruppen und verfolgen stumm,
wie ich mich langsam vom Boden erhebe und mir den Staub von den Hosenbeinen klopfe. Das Kind kann ich nirgendwo entdecken. Eine Wächterin schlägt einem Mädchen, das uns nur langsam den Weg frei macht, mit der flachen Hand in den Rücken. »Eigentlich sollte sie eine Uniform tragen«,
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