Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Sai-Universums ist gut gesichert. Hinter hohen Mauern kontrollieren Ashram-Polizisten in weißen Uniformen mit blauen Halstüchern die Scharen, die hineinströmen. Westliche Pilger in wallenden indischen Hemden, bleiche russische Halbwüchsige in Jeans und Nike-Turnschuhen, koreanische Besucher mit Mundschutz, nordindische Gläubige mit gelben Schirmmützen, auf denen »Travel Time India« steht, ein humpelnder alter Nepali, eine italienisch aussehende Mutter mit Hüfttuch, ein Kind am Arm, eines in der Klappkarre. Ein junger Europäer mit Ziegenbart umrundet,
eine Gebetskette in der Rechten, einen Schrein für den Gott Ganesh. Ein blonder Riese mit Rainer-Langhans-Frisur legt, die Hände zum indischen Gruß gefaltet, einen weißen Blumenkranz auf den Altar.
Der Ashram ist eine Stadt in der Stadt. In den gelb und rosa gestrichenen Gebäudekomplexen gibt es ein Postamt und eine Wechselstube, einen Bankautomaten, ein Shoppingcenter, eine Bibliothek und eine »Canteen«, geöffnet bis 18.30 Uhr. Dahinter durchquere ich Dutzende einfacher Massenunterkünfte in einer gepflegten Parkanlage, ausladende, schlichte, einstöckige Hallen mit roten Ziegeldächern, auf denen Ladys und Gents steht.
Ein Schild weist zu »Radio Sai Global Harmony« und zur PR-Abteilung des Gurus. Vor einem komplett runden Gebäude steigen zwei junge Mönche aus einem polierten Geländewagen. Sie sehen kerngesund und archaisch aus, den Kopf kahl geschoren bis auf einen Zopf im Nacken, gelbe Gewänder, die nur die linke Schulter bedecken. Ich folge ihnen in einen Warteraum, der wie ein Krankenhausflur wirkt. Ein Bediensteter mit blauem Halstuch sitzt in einem gläsernen Empfangskasten: »Sai Ram. Wohin wollen Sie?«
Zum ersten Mal kommt mir der göttliche Gruß über die Lippen. Es nützt ja nichts. »Sai Ram. Ich möchte den Swami sprechen. Ich bin ein Autor aus Deutschland und habe ein paar kurze Fragen.«
»Sie können warten. Vielleicht hat sein Sekretär, Herr Chakravorty, Zeit für Sie.«
»Ich würde gern zum Meister selbst.«
»Nehmen Sie Platz. Vielleicht haben Sie Glück und Chakravorty kann Ihre Fragen übermitteln.«
Ich setze mich auf einen weißen Plastikstuhl und warte. Die Mönche sitzen neben mir und plauschen angeregt.
Eine Tür geht auf, ein schmächtiges, altes Männlein in einem weißen Uniformchen nickt die Mönche herein, die Tür geht wieder zu. Ich starre auf einen unregelmäßig blubbernden Wasserautomaten, unter dem eine Batterie Pappbecher angeordnet ist. Eine halbe Stunde später geht die Tür wieder auf. Der Mann in der weißen Uniform entlässt die Mönche und wendet sich mir zu, es muss Chakravorty sein: »Sie möchten den Meister sprechen? Das ist nicht so einfach. Er hat viel zu tun. Fragen Sie mich.«
Ich zögere. Vielleicht ist dies der Moment, in dem ich mir den Weg zum Sai Baba endgültig verbaue. »Ich laufe zu Fuß durch dieses Land, und ich habe Armut und Reichtum gesehen«, sage ich. »Ich habe Menschen gesehen, die es sich gut gehen lassen wie europäische Großstädter, und andere, die ein Leben fristen wie im Mittelalter. Es gibt Leute, die sagen, dieses Land wird auseinanderdriften. Ich möchte wissen, was der Swami über die Zukunft Indiens denkt.«
Der Uniformierte verzieht die sinnlichen, dicken Lippen zu einem süffisanten Lächeln. »Der Sai Baba lehrt die Menschen Demut, er lehrt sie, einander zu dienen. Die Armut in Indien wird besiegt werden. Der Baba hat es gesagt. Es wird nur noch wenige Jahre dauern.«
»Aber dazu muss doch mehr getan werden, als zu beten. Die Maoisten erobern das Hinterland. Hindufanatiker brennen Kirchen und Moscheen nieder, Islamisten sprengen Züge. Was nützt da Demut?«
Mein Gegenüber ergreift beschwichtigend meine beiden Handgelenke. »Ich verstehe Ihre Zweifel, junger Mann. Aber Sie übersehen, dass der Sai Baba Krankenhäuser baut und Wasserprojekte durchführt. Dienst am Menschen ist Dienst an Gott. Und Gott wird alles richten. Sehen Sie, ich war selbst ein Revolutionär in den späten Sechzigern, ich war anti-swami.
Dann bekam ich zufällig einen Job beim Sai Baba. Eines Tages hatte meine Mutter mir einen Brief geschrieben, ich legte ihn mit anderen Sendungen ungeöffnet auf meinen Schreibtisch. Mir ging undeutlich durch den Kopf, dass ich vergessen hatte ihn zu lesen, als ich mein Zimmer verließ. Da traf ich den Baba im Flur. ›Du solltest das Schreiben deiner Mutter öffnen‹, sagte er nur. Und ich dachte, ich habe Gott gesehen. Und kehrte auf der
Weitere Kostenlose Bücher