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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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durch die mittäglich brummende Stadt Richtung Südbahnhof ging, dachte ich an Tolstoi – weniger an seine Werke als an sein Gesicht – und versuchte mir vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wäre er anstatt des Jungen aus Kremsmünster kurz vor seinem siebten Geburtstag auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Irgendwo in Russland, auf einer Tanzveranstaltung, von denen es ja zu allen Zeiten und in jedem Land der Welt genug gab. Die Eltern des Jungen aus Kremsmünster hätten ihrem Kind beim Aufwachsen zusehen können, hätten in einsamen Stunden andere Schriftsteller als Tolstoi gelesen, und der Junge wäre zu einem erwachsenen Mann, später zu einem Greis geworden. Söhne, Töchter, Enkelkinder. Schließlich wäre er gestorben und in einem gewöhnlichen Grab beigesetzt worden. Und die Welt hätte die nie geschriebenen Werke von Tolstoi genauso wenig vermisst, wie sie jetzt den Jungen vermisste.
    Verunsichert und eingeschüchtert von dieser Erkenntnis stand ich auf dem Bahnsteig herum und fing mich erst wieder, als sich ein paar Männer mit großen Musikinstrumenten zu mir gesellten. Beim Einsteigen bat mich einer von ihnen, ihm mit dem Kontrabass zu helfen, was ich sofort tat, glücklich und erleichtert über das fette, satte Gewicht des großen, mit verschiedenen Reiseaufklebern verzierten Koffers in meinen Händen.
    Erst als der Zug schon fuhr, merkte ich, dass ich meinen Lieblingsroman, Halldór Laxness’ Am Gletscher, den ich extra mitgenommen hatte, um ihn während der zweieinhalbstündigen Zugfahrt zurück nach Graz zu lesen, im Hotelzimmer vergessen hatte. Verwirrt legte ich eine Hand aufdie Fensterscheibe, als könnte ich den Zug dadurch ein wenig bremsen. Schon als ich ein Kind war, war mein Mitleid mit Dingen und Tieren stärker gewesen als mit Menschen. Verlorene Schals weinten die ganze Nacht in der Dunkelheit, ein kaputter Regenschirm fühlte sich wie ein Rabe mit gebrochenen Flügeln und war untröstlich darüber, dass er nie wieder den frischen Regen auf seiner gespannten Haut spüren würde, eine Biene, die an der Innenseite eines Fensters entlangschwirrte, sehnte sich nach der Luft und der Sonne und der Nähe ihres Volkes, und ein Baum, aus dessen Krone ein altes Frisbee geschüttelt wurde, war traurig über den Verlust seines Spielzeugs oder Schmucks. Zur selben Zeit liebte ich explodierende Häuser, Soldaten, die brennend aus Helikoptern fielen oder von Maschinengewehrsalven durchlöchert wurden, und ich hüpfte vor Freude vor dem Fernseher auf und ab, wenn einem Menschen in einem Kung-Fu-Film – egal, ob er es verdient hatte oder nicht – durch die akrobatischen Attacken seines Gegners das Genick gebrochen wurde und er röchelnd und nach Luft ringend auf der Erde lag, und der Sieger ging vor ihm ein letztes Mal majestätisch in Position und verbeugte sich vor ihm, als begrüßte er den Tod selbst, der unsichtbar die Szene betrat, um seine Opfergabe abzuholen. Selbst heute noch scheint es mir, als hätte ich das Mitfühlen und Mitleiden mit Menschen gerade erst gestern gelernt und müsste mich immer noch an die unerträgliche Helligkeit gewöhnen, in die es die Welt taucht.
    Meine Hand glitt in die Tasche meines Mantels. Sie berührte Plastik. Ich holte das fremde Ding hervor. Die Hülle einer Hörspielkassette. Bibi Blocksberg, die kleine Hexe. Ich machte sie auf. Statt einer Kassette lag ein Zettel darin.
    Ferenc
    33, Rue de la Loi
    Bruxelles
    Und eine sehr lange Telefonnummer, hinter der mobil stand. Verwirrt schaute ich mir die Kassettenhülle an. In das Gesicht der kleinen Hexe Bibi Blocksberg hatte jemand einen Hitlerbart gemalt. Als der Zug in einen sekundenlangen Tunnel einfuhr, überkam mich ein ungewöhnlich heftiger Würgereiz. Ich stand auf und ging ein wenig durch die Waggons in der Hoffnung, meinen Körper durch die Gleichgewichtsspiele, die die sanften Kurven und das Schaukeln und Rütteln nötig machten, ein wenig abzulenken, ihm etwas zu tun zu geben. Zur Selbstberuhigung rief ich Julia an.
    – Hallo.
    – Hallo, bist du schon im Zug?
    – Ja, ich ... mir ist gerade schlecht geworden.
    – Zu viel Nancarrow?
    – Nein, aber ich glaube, ah, das wird dir nicht gefallen ... ich glaube, ich werde als Nächstes nach Brüssel fahren.
    – Clemens, sagte sie in traurigem Tonfall.
    – Doch, doch, ich glaube, ich hab jetzt einen besseren Überblick, obwohl es immer noch ziemlich schwierig ist ... Man hat mir eine Kontaktadresse gegeben.
    – Vielleicht

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