Indigo (German Edition)
Leute Gott vorstellen, sagte ich.
Christian lachte. Er druckte das Bild aus und heftete es über seinem Schreibtisch an die Wand.
– Das könnte wirklich jeder sein, sagte er schließlich, nachdem er das Gesicht länger studiert hatte. Alte Leute sehen irgendwie alle gleich aus.
– Wenn dieser Faktor mal unter Kontrolle ist, sagte Paul, dann geht man weiter zum nächsten Punkt und schaut sich die bekannte Geschichte an. In dem Fall wissen wir, äh, also ... er ist einfach auf eine Menschenmenge zugelaufen und darin verschwunden. Glaubst du die Geschichte?
– Na ja, das Erste ist immer die Geschichte, sagte Christian achselzuckend. Von ihr muss man ausgehen, ja ... Bei Magda T. war es am Anfang auch nur eine Geschichte.
– Hm, sagte Paul. Wenn er nicht von den Leuten zertrampelt worden ist, lebt er vielleicht noch immer irgendwo, wohnt in einem Altersheim, ohne Angehörige, bald neunzig Jahre alt, blind, senil.
– Pfff, machte Christian. Auch von solchen gibt es unendlich viele ...
– Ja, sagte Paul, da hast du recht.
Er warf mir einen Blick zu, so wie ihn fremde Leute tauschen, die vor verschlossenen Fahrstuhltüren warten.
– Die Software ist wirklich beeindruckend, stellte ich fest. Erstaunlich.
– Hm?
Christian drehte sich zu mir um. Er sah mich an, als hätte ich eine höchst ungewöhnliche Bemerkung gemacht.
– Die Software funktioniert, wiederholte ich. Und das bei einem so alten Bild. Das ist doch erstaunlich, oder?
– Finde ich auch, sagte Paul. Die war ihr Geld wert.
Christian sagte nichts, er nickte nur kurz und wandte sich dann wieder dem ausgedruckten Bild an der Wand zu.
– Nach so langer Zeit, sagte er leise. Schau ihn dir an.
– Wir könnten ihm vielleicht eine Brille verpassen, meinte Paul. Oder eine Frisur wie Einstein. Oder Beckett.
– Wer?, fragte Christian.
– Samuel Beckett.
– Ich weiß nicht, wie der aussieht. Auch wie Gott?
– Nein, eher weniger, sagte ich. Er hatte sehr kraftvolles Haar. Die ganze Energie seiner Erscheinung war bei ihm im Haarschopf konzentriert.
– Ts, machte Christian.
Paul tippte auf dem Laptop herum und zauberte auf das alte Gesicht eine dichte Wolke ungebändigten Greisenhaars, schneeweiß und flackernd. Als er sah, wie Christian herüberblickte, trat er einen Schritt zurück und deutete auf den Bildschirm. Christian lächelte nur und blickte wieder zum Bild.
– Weißt du, was wirklich merkwürdig ist?, sagte Christian nach einer Weile. Ich hab das Gefühl, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Irgendwo.
– Wo?, fragte Paul.
– Weiß nicht. Aber ich könnte schwören ...
Er trat ganz nah an das alte Gesicht heran und tippte mit seinem Zeigefinger auf dessen Stirn.
– Könnten wir noch einen Probelauf machen?, fragte ich. Nur so, damit ich sehe, wie’s funktioniert. Vielleicht hat einer von euch einen Lichtbild-Ausweis dabei, den wireinscannen könnten. Oder wir machen ein Webcam-Foto, oder –
– Nein, sagte Christian. Das ist eine Regel bei uns, keine unechten Fälle, wir ... Warte, ich hab grad an was gedacht ... Das ...
Paul hob die Arme, als wollte er sagen: Ich hätte ja nichts dagegen, aber er hat nun mal Nein gesagt. Er ist der Boss.
– Okay, dann werde ich mal gehen, sagte ich. Mein Zug ...
– Ja, wir sollten wahrscheinlich auch wieder zurück an die Arbeit, sagte Paul. Einen Eindruck hast du ja jetzt bekommen, oder?
– Wenn überhaupt, sagte Christian, dann ...
Er schien sich zu besinnen, dass das, was er sagen wollte, überhaupt nicht zur Situation passte. Er hatte gar nicht mehr auf uns geachtet. Eine leichte Röte zog über sein Gesicht, und er tat so, als räusperte er sich.
– Ja, wir sollten wirklich wieder, sagte er. Also dann, Clemens, hat mich gefreut.
Oliver Baumherr brachte mich zur Tür.
– Beeindruckend, oder?
– Ja, sagte ich.
– Sie sehen aber nicht so aus, als wären Sie beeindruckt. Sie wirken etwas enttäuscht, Herr Setz.
– Ich bin einfach verwirrt. Ich habe diese Seiten gelesen, die Sie mir gegeben haben. Relokation ... der Begriff ist mir jetzt klar. Er bedeutet einfach umziehen. Und ...
– Nicht einfach umziehen, oder?
– Ich meine, ja, okay ...
– Sie wirken tatsächlich verwirrt, Herr Setz. Aber Sie werden merken, dass ich Ihnen etwas mitgegeben habe, das Sie später gebrauchen können. Viel Glück. Und viel Erfolg weiterhin.
– Vielen Dank.
– Hier ist Ihr Mantel. Warten Sie, ich helfe Ihnen rein.
Während ich
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