Indigo (German Edition)
selbst.
(Zusammengestellt von O. Baumherr, C. Thiel und P. Quandt.)
Als Letztes fand sich in der grünen Mappe ein Polaroid von Magda T. aus dem Jahr 2003. Sie steht neben Oliver Baumherr und zwei anderen Männern, lächelt in die Kamera. Ihre Augen sind schmale Schlitze, als würde sie etwas blenden.
Ich erwachte inmitten der auf dem schmalen Tisch ausgebreiteten Blätter und Artikel. Ein kleiner Zettel blieb an meinen speichelnassen Lippen hängen. Ich löste ihn vorsichtig ab und legte ihn zu den anderen. Ich schaute auf die Uhr: halb sieben. Um acht Uhr hatte ich den Termin bei Oliver Baumherr und seinen Kollegen.
Während ich mich anzog, versuchte ich, wie vor einer Prüfung, noch einmal alle wichtigen Fakten über Magda T.s Relokation aufzusagen. Aber ich blieb beim Mann mit dem Pyramidenkopf hängen. Hatte ich das wirklich gelesen? Ich suchte in den Papieren nach der Stelle, konnte sie aber nicht mehr finden.
Im Frühstücksraum des Hotels trank ich einen starken Grüntee und stellte mir vor, davon immer wacher und konzentrierter zu werden.
– Herr Setz, guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?
– Ja, in gewisser Weise. Hallo –
Ich gab den beiden anderen Männern, die neben Oliver Baumherr standen, die Hand, und sie stellten sich vor. Christian. Paul. Sie waren sofort per Du mit mir.
– Du interessierst dich für Magda?, fragte Paul.
– Nein, der Herr Setz hat die beiden Artikel geschrieben, du weißt schon –
– Oh, sicher, ja.
Der Mann namens Paul nickte.
– Wir haben damals ihr Bild rekonstruiert, es war nicht schwierig, weil das Kind nur ein paar Jahre weg war. Und dann hat Ferenc den Rest erledigt.
Der grüne Tee zeigte Wirkung.
– Ferenc?, fragte ich. Wo wohnt er?
– Ach der, sagte Oliver Baumherr. Der ist momentan in Brüssel. Oder an einem unbekannten Ort. Je nachdem.
– Ist er ein Nachfahre von ...?, fragte ich. Wir haben doch gestern gesprochen über ...
Oliver Baumherr und Christian Thiel wechselten einen Blick.
– Wie gesagt, Ferenc ist mehr ein Titel. Der alte Hollereith war eine Art Schirmherr für das Ganze. Die Idee ist dieselbe geblieben.
– Okay.
– Kommen Sie, wir haben uns was für Sie überlegt, Herr Setz. Eine kleine Demonstration.
Software
Am wichtigsten sei der Zeitfaktor, sagte Christian. Die Zeit spiele bei der Frage, wo sich eine gesuchte Person aufhalten könnte, wie sie jetzt aussähe oder was genau mit ihr passiert sein mochte, die allerwichtigste Rolle.
Dann erzählte er mir von einem Fall, der sich vor ein paar Jahren zugetragen hatte. Ein russischer Programmierer namens Aleksandr Archin habe, so Christian, mit einer neuen Software für simulierte Alterung für einige Aufregung gesorgt. Sein Programm habe zuverlässiger gearbeitet als die meisten anderen, die es zu dieser Zeit auf dem Markt gab, sein Algorithmus war streng geheim und der Hype in der Szene sei daher entsprechend groß gewesen. Dann seien plötzlich Stimmen laut geworden, dass das Programm zwar sehr schnell sei und auch Resultate liefere, die auf den ersten Blick überzeugend wirkten, was das hypothetische Aussehen der gealterten Vermissten anging, aber zugleich sei die Erfolgs- und Wiedererkennungsquote auffallend gering. Laut Christian hatte es sehr lange gedauert, bis diese vage denunziatorische Kritik einer konkreteren und auch um vieles verblüffenderen Einschätzung Platz machte: die gealterten Bilder glichen einander. Die Leute, denen es zum ersten Mal auffiel, hätten ihren Augen nicht getraut, so Christian, ihm selbst sei es vorgekommen, als habe er monatelang unter Wasser oder auf der erdabgewandten Seite des Mondes gelebt. Ein geradezu schmerzhaftes Erwachen aus der Hypnose. Die Bilder seien zwar eindeutig aus den Quellbildern der vermissten Per-sonen entstanden, aber bei den Wangenknochen, bei dem sich nach oben leicht verjüngenden Schwung der Lippen und, vor allem, bei den einander zustrebenden Augenbrauen habe sich immer dasselbe Muster gezeigt, das oft mit den Urbildern gar nichts zu tun hatte. Man habe natürlich bald die Lösung für dieses Mysterium gefunden: das Foto des russischen Programmierers selbst. Er hatte sein eigenes Antlitz quasi in die Morph-Technologie seiner Software hineinprogrammiert, als allem zugrunde liegende visuelle Konstante, auf die jeder hypothetische Alterungsprozess hinkonvergierte. Wenn etwa ein zwölfjähriges Mädchen, das seit fünf Jahren abgängig war, durch die Software älter gemacht wurde, bekam sie
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