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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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einen zweiten, fremden Blick verpasst: den von Aleksandr Archin.
    – An sich ja ein ziemlich virtuoser Stunt, unterbrach Paul Christians Erzählung.
    – Hm?, machte Christian.
    – Na ja, das da reinzuprogrammieren, das ist schon ... also, an sich jetzt, schon ...
    – Jajaja, aber es ist doch absolut kriminell, oder?
    – Weiß man, warum er das gemacht hat?, fragte ich.
    – Ich weiß auch nicht, sagte Paul, vielleicht wollte er die Arbeit von Leuten wie uns sabotieren. Ich meine, es gibt viele Menschen, die etwas dagegen haben.
    – Na ja, sagte Christian, ja, ja, das kam auch damals alles schon ..., diese Erklärungen, die ... sind wirklich überall herumgegeistert. Dass er die Vergangenheit beschützen will und so. Das anonyme Heer von Vermissten, die irgendwo vielleicht noch leben, unerkannt, unter anderem Namen. Dass mehrere untergetauchte Menschen ihm Geld gegeben haben, dass er sich da selbst hineinkopiert. Oder dass er in Wirklichkeit für verschiedene Regierungen arbeitet, die in organisierten Menschenhandel verwickelt sind. Alles schwer zu sagen.
    – Aber warum hat er denn dann sein eigenes Gesicht verwendet, sagte ich, ich meine, da gäbe es doch hundert andere Möglichkeiten.
    Die Männer zuckten die Achseln.
    – Schwer zu sagen, sagte Christian.
    – Und es entspricht auch der Struktur solcher Programme, ergänzte Paul, dass man so eine Art konstante Gesichts-maske als Basis verwendet, so eine Art Standardeinstellung der verschiedenen Pivotelemente. Iris, Kinngrübchen, Nasenwurzel, Haaransatz, Wangenknochen et cetera.
    – Du hast nicht wirklich eine Ahnung, was gemeint ist?, vermutete Christian lachend und deutete auf meinen Notizblock, der während unserer ganzen Unterhaltung aufgeschlagen vor mir gelegen, aber dessen Seiten vollkommen weiß geblieben waren.
    Um mir zu demonstrieren, wie so ein Programm funktio-nierte, wollte Christian seine neueste SimulAged-Software, die er sich vor Kurzem angeschafft hatte, mit dem Bild eines vor fast achtzig Jahren verschwundenen Kindes konfrontieren.
    Der Junge hatte bis zum Dezember 1927 in der oberösterreichischen Gemeinde Kremsmünster gelebt. Kurz vor seinem siebten Geburtstag war er eines Tages auf einem Tanzfest,bei dem auch seine Eltern anwesend waren, mitten in einer Menschenmenge einfach verschwunden. Die in einem Zeitungsartikel zitierten Eltern berichteten, dass sie ihn gesehen hätten, wie er seelenruhig auf die wild umeinanderwirbelnden Körper zugegangen sei. Ziemlich geradlinig sei er gegangen, so wie es Menschen tun, die zum ersten Mal das Meer sehen und wie ferngesteuert, von uraltem Magnetismus angezogen, auf die sich am Ufer brechenden Wellen zumarschieren. Und wirklich gespenstisch sei es gewesen, mit anzusehen, wie die wirbelnden Gliedmaßen der Tanzenden ihn immer nur ganz knapp verfehlten – und wie er plötzlich nicht mehr da war, verdeckt von Musik und Bewegung und bunter Kleidung. Der Vater habe die Kapelle gebeten, für einen Augenblick mit dem Spielen aufzuhören, sein Sohn sei da irgendwo auf der Tanzfläche. Verständnisvoll und amüsiert habe der Kapellmeister auf diese Bitte reagiert, heißt es. Man begann zu suchen, aber der Junge war nirgends, immer mehr Menschen schlossen sich an, man schaute überall nach, unter jedem Tisch, sogar die Dielen des Tanzbodens untersuchte man, ob eine davon vielleicht locker war. Aber man fand nichts. Der Junge blieb verschwunden. Einige Jahre später erklärte man ihn für tot, und ein leerer Kindersarg, den statt sechs nur zwei Männer trugen, wurde in ein Grab gelegt.
    Christian Thiel hatte den Artikel mit dem unscharfen Porträtfoto des Jungen durch Zufall in einer Sammlung alter Zeitungen entdeckt. Ich stand daneben, während er das Bild einscannte. Die leisen Seufzer des Scanners erinnerten an das Geräusch auseinandergleitender Lifttüren in einem exquisiten Hotel. Die Software, für die Christian fast dreitausend Euro hingeblättert hatte, um sie den verzweifelten, nach jedem Strohhalm greifenden Kunden seiner Agentur zur Verfügung stellen zu können, brauchte nur wenige Sekunden, bis sie das Ergebnis berechnethatte. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines sehr alten Mannes. Christian probierte einige Frisuren und Barttrachten aus und entschied sich schließlich für einen dichten Vollbart.
    – Sieht aus wie Tolstoi, sagte ich.
    – Ehrlich?
    – Ja, irgendwie.
    – Ich weiß gar nicht genau, wie Tolstoi aussieht, sagte Christian.
    – So wie sich die

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