Indigo (German Edition)
Ihre letzten Worte, bevor sie gegangen war. Robert hatte das Gefühl, dass er sie sich nur eingebildet hatte. Aber sie waren da, in seinem Kopf, in dem Winkel, in dem sonst nur Erinnerungen kühlgelagert wurden.
Ja, weißt du, Robin … (der Rest ist Schweigen.)
Mit seiner Herbstjacke sah er immer enorm geplustert aus. Wie ein als Zoowärter verkleideter Pinguin. Er ging in den Hof, um sein Fahrrad kaputt zu machen. Es war zwar wirklich schade darum, aber er hatte vorhin einen kurzen Blick vom Fenster aus darauf geworfen und gedacht: Ja, du. Es war ein Verlust, der groß und schwer genug war, um seine Verzweiflung, sein schlechtes Gewissen, seinen großen Jammer lindern zu können.
Im Garten befiel ihn, wie so oft, die starke Vermutung, dass die Männer von der Müllabfuhr den Bewohnern des Hauses durch die Art, wie sie die Mülltonnen am Morgen nach dem Entleeren vor dem Haustor abstellten, etwas mitteilen wollten. Eine verschlüsselte Botschaft über den Zustand der Welt. Heute standen die Tonnen so schön in einer Reihe wie Münzautomaten in einem Casino.
Draußen war es überraschend warm. Ein Fieberrückfall der Jahreszeit.
Als Robert vor dem Fahrrad stand, hatte er das Gefühl, dass es ihn von der Seite anstarrte. Wie ein Pferd oder ein Vogel. Ich weiß genau, was du vorhast. Am liebsten hätte er ein weißes Tuch über die Lenkstange gebreitet und sie dann mit einem großen Hammer bearbeitet. Aber er hatte weder Hammer noch Tuch, nur einen Schraubenzieher und eine Zange.
Hinter sich hörte er Geklapper. Ein Plastikeimer voller Wäscheklammern wurde auf den Betonboden des Hofs gestellt. Das Gestell, auf das die nassen Kleidungsstücke und Laken kamen, überragte die kleine, dicke Frau um zwei Köpfe. Ein einziger warmer Herbsttag und dieses komische Frauen-Ding ging raus, um so zu tun, als wäre es Sommer. Die Wäsche im Garten aufhängen.
– Hallo, Herr Tätzel!
Sie beschirmte auf eine alberne Weise ihr Gesicht mit den Händen, als sie sich zu ihm wandte. Okay, gar nicht so albern, ein Sonnenstrahl fiel direkt auf sie. Sonst herrschte Schatten im Garten.
– Morgen, sagte er.
– Wie geht’s Ihnen?
Er schaute die Nachbarin an. In seiner Hand lag der Schraubenzieher. Er machte einen Schritt vorwärts, sie lächelte, der Rand der Großen Seifenblase schob sich ins Leere, erwischte die Frau nicht. Ohnehin um einige Meter verschätzt. Er wusste gar nicht mehr, wo sein Zonenrand gewesen war, Herbst und Schatten, die Stimmen der anderen Dingos, verloren herumrollendes Gemüse auf einem schattseitigen Berghang am Semmering.
– Tut mir leid wegen letztem Mal, sagte er.
Nein, er hatte das nicht laut gesagt. Er hatte es ja nicht mal gedacht, also konnte sein Mund auch unmöglich –
– Schon okay, sagte sie.
Eine Wäscheklammer wurde festgehalten, ihr Maul geöffnet, wie ein zahmer Piranha an die richtige Stelle geführt, und durfte dort zubeißen. Frau Rabl führte diese Bewegungen mit einer gewissen Anmut aus. Wahrscheinlich war sie alleinerziehend. Robert hatte sie noch nie mit einem Mann gesehen. Auch der Junge war …
– Wie geht’s Ihrem Sohn?
Okay, ich schalt mich weg, dachte er. Tu doch, was du willst, du Sack. Du dreckiger Dingo.
– Danke. Ihm geht’s gut. Jetzt ist ja Gott sei Dank wieder Schule.
– Ah ja.
– Wo sind Sie denn zur Schule gegangen, Herr Tätzel?
Robert öffnete seinen Mund. Sein Gehirn hatte die Arme beleidigt vor der Brust verschränkt und schaute woanders hin. Tu doch, was du willst.
– In der Helianau, das ist –
– Ach so, sagte die Nachbarin. Natürlich, Entschuldigung.
– Nein, ist schon okay. Ich … Wissen Sie, meine Freundin … Sie …
Er machte eine Geste.
– Oh, du liebe Zeit, was ist denn passiert?
– Sie ist gegangen.
Warum erzählst du ihr das? Die Nachbarin ließ die kleinen bunten Piranhas zurück in den Eimer fallen und kam auf ihn zu. Sie fasste ihn an der Schulter. Warum musstest du ihr das unbedingt erzählen? Sie war wirklich eine sehr kleine Frau. Und kugelrund, vor allem im Gesicht. Robert fühlte, wie sich ihre Form, der Raum, den sie auf Erden beanspruchte, sanft gegen ihn wölbte. Warum bist du so ein jämmerlicher Idiot?
– Warten Sie, gehen wir rein, sagte sie. Das ist ja schrecklich.
Er ließ sich von ihr ins Haus begleiten. Eindeutig alleinerziehend. Vorsichtige Schritte. Glücklich über Gesellschaft.
– Dann waren Sie also in dem Helianau-Institut, ja? Ich hab mir schon gedacht, dass Sie
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