Indigo (German Edition)
hingen.
– Hier, sehen Sie sich dieses Manuskript an. Generisches Zeug, im Grunde. Aber gut gemacht. Richtig gute Simulation. Was sagen Sie zum Titel?
– Klingt seltsam.
– Ja, nicht? Das geht gut, heutzutage. Man denkt an Familie, den Kampf der Generationen, solche Dinge. Es ist natürlich eine Mogelpackung, zusammengeklebte Teile, die nicht wirklich zusammengehören. Ein Durcheinander, aber es ist bereits angenommen. Es ist Ihres. Wenn Sie es möchten.
– Ich … ich hab über ein ähnliches Thema meine Abschlussarbeit in Mathematik geschrieben …
– Stimmt, jajaja … Sie sind ja Mathematiklehrer, ja … Und, wieso arbeiten Sie nicht mehr in Ihrem Beruf?
– Ich hab mein Praktikum abgebrochen.
Der Wind heulte um die Gondel. Drinnen war es spätsommerlich warm.
– Um sich anderen Tätigkeiten zu widmen?
– Kann ich gehen?
– Klar können Sie. Jeder kann das. Ist wie Atmen.
Pause.
– Das heißt, Sie sind fertig?
– Nein, das heißt es nicht, Herr Seitz. Ich habe hier immer noch diese beiden Manuskripte. Ist Ihnen kalt? Nun, sehen Sie, mit Sicherheit werden Sie mit diesem hier beginnen wollen. Es ist kürzer und eindringlicher. Dieses zweite hier … na ja, heavy shit. Dashaben zwei Irre aus Wien in ein paar Wochen runtergeklopft. Aber trotzdem Qualitätsarbeit.
Ich seufzte. Die Gondel setzte sich in diesem Augenblick wieder in Bewegung.
– Langweile ich Sie, Herr Seitz?
– Nein. Aber ich würde gerne aussteigen. Kann ich das?
– Klar können Sie. Wissen Sie, Herr Seitz. Falls Ihnen jemand erzählt, dass Sie nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen oder nicht mehr atmen können … verstehen Sie? Dann ist dieser Jemand nicht Ihr Freund. Dann sollten Sie ihn meiden.
2 Der Friedhof
in Gillingen
In der Kirche starrten alle Leute nach oben. Ihre Haltung erinnerte an die einer Katze, die unter einem Baum sitzt und einen unerreichbaren Vogel nicht aus den Augen lässt. Ein Pfarrer aus dem Nachbarort war gekommen, der sich bereiterklärt hatte, den unter so traurigen Umständen verstorbenen Christoph Stennitzer zu beerdigen. Obwohl der Vater von Frau Stennitzer extra zum Gillinger Pfarrer gegangen war, lange mit ihm gesprochen und auch einige Flaschen Wein bei ihm gelassen hatte, hatte sich der alte Geistliche nicht in der Lage gesehen, die Messe zu zelebrieren. Ein Jugendlicher, der sich erhängt hatte, während rund um ihn die Flammen seines kleinen Häuschens loderten …
Frau Stennitzers Unterlippe versteckte sich unter den Vorderzähnen. Sie sagte kein Wort, als ich sie begrüßte und ihr mein Beileid aussprach. Auch sonst reagierte sie auf die Interaktionsangebote ihrer Umwelt kaum, nur hin und wieder berührte sie den Arm ihres Vaters, als wollte sie ihm sagen: Nicht. Nicht weitersprechen. Obwohl der glatzköpfige Mann mit den braunen Handschuhen gar nichts sagte.
Frau Stennitzers Körper wirkte schwer, wie mit Sand gefüllt. Die Leute benötigen beide Hände, um ihre zu schütteln.
Als alle Trauergäste aus der Kirche getreten waren, stellte ich mich Christophs Großvater vor. Er gab mir die Hand, ohne die Handschuhe abzulegen. Dann nickte er und sagte, er habe Verständnis für mich.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nickte ich auch.
Christoph und die Familie, das sei immer ein Problem gewesen, sagte der alte Mann und zog sich die Jacke aus. Er schwitzte. Der Tag war heiß. Einmal sei er selbst von Jugendlichen aus dem Ort bedroht worden.
– Aus der Ferne, die haben sogar auf uns geschossen, mitSchreckschusspistolen oder etwas in der Art. Irrsinnig laut, diese Geräte. Und der eine hat so einen ABC-Schutzanzug getragen, deshalb haben wir uns gedacht, das muss eigentlich der Wernreich Benni sein, von da oben. Sein Vater ist nämlich beim Heer.
Damit ging der alte Mann fort.
Landbegräbnisse an heißen Sommertagen haben etwas besonders Intensives und Erschütterndes. Die Leute wischen sich andauernd den Schweiß von der Stirn und aus den Augenwinkeln, die Ärmel der viel zu warmen schwarzen Trauerkleidung werden hochgekrempelt, aber nicht so weit, dass es wirklich Linderung und Kühlung bringen würde, denn das könnte respektlos erscheinen. Niemand möchte signalisieren, dass sein eigenes Körperempfinden, die Hitze, die sich in ihm ausbreitet, schwerer zu ertragen ist als der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen. Die hohen Temperaturen machen die Trauernden zugleich träge und ungeduldig; selbst Blicke werden einsilbig. Der
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