Indigo (German Edition)
Verabredung mit den Medien und dem traurigen Sensationshunger der Menschen.
Damals hatte Julia gesagt, dass irgendetwas mit meinen Gedanken nicht stimme. Sie seien merkwürdig geworden, schweiften ständig zu schrecklichen Dingen ab, würden riesengroß und erdrückend. Ich schob es auf die Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen, die ich als Folge meiner Arbeit im Helianau-Institut bekommen hatte.
– Alles in Ordnung?, fragte Frau Stennitzer.
– Ja, sagte ich und ließ meine Schläfen los.
– Wenn Sie kurz rausgehen möchten, sagte sie (am Tonfall merkte ich, dass dieser Satz schon Hunderte Male über ihre Lippen gekommen war).
– Nein, geht schon, sagte ich. Oh, da …
Auf dem Fenstersims des Zimmers entdeckte ich etwas, dasmich seltsam berührte, fast wünschte ich, ich hätte es nicht bemerkt: Ferngläser. Es waren drei Stück, zweimal genau dasselbe Modell und ein etwas größeres. Sie erinnerten mich an die Nächte meiner Kindheit, in denen ich, weil auf der Orpheum-Konzertbühne, die meinem Schlafzimmer gegenüberlag, ein Konzert stattfand, in einem anderen Zimmer der Wohnung schlafen musste und deswegen oft bis zum Morgen kein Auge zumachte. Es war zwar meine Wohnung, aber die Wände sahen nachts falsch aus, außerdem hörte ich die Straße, und Autos fuhren ständig als fächerförmige Lichtgespenster durchs dunkle Zimmer. Irgendwann bekam ich ein Fernglas geschenkt und verbrachte die Nächte mit – oder besser gesagt: in ihm. Besonders nützlich war es, wenn ein Schulfreund bei mir übernachtete. Fast die ganze Nacht suchten wir dann geduldig die gegenüberliegende Hausmauer nach Interessantem, Sensationellem ab. Und da wir selten irgendetwas dergleichen entdecken konnten, glitten wir nach und nach ins Erfinden hinüber, aber ohne uns bewusst zu sein, dass wir Dinge erfanden, was vielleicht der glücklichste und gelösteste Zustand war, in dem ich mich je befunden hatte.
Von Nächten, die man in der kreisrunden Blickwelt eines Fernglases verbringt, ist es nur ein Katzensprung zur Anschaffung eines Teleskops. In dem Zimmer, durch das mich Frau Stennitzer führte, als wäre es der konservierte Wohnraum einer längst verstorbenen Berühmtheit, stand eines. Ich selbst hatte mir nie eines angeschafft.
– Da macht er seine Hausaufgaben, das heißt, wenn er welche hat … Und das ist die Gegensprechanlage, die surrt bei uns drüben in der Küche und im Schlafzimmer.
– Schönes Teleskop, sagte ich. War das teuer?
Sie machte:
– Pffff, äh, ja, keine Ahnung. Das hat ihm damals mein Bruder gekauft. Also kann man davon ausgehen, dass es nicht billig war. Mein Bruder ist Pilot. Wollen Sie mal durchschauen?
– Nein danke.
die Mondoberfläche, die ungeheuer scharfen Schatten der Kraterränder, die grauen Verwirbelungen und Kammlinien der sandigen Oberfläche. Alles grau in grau. Merkwürdig, dass die meisten Menschen, so wie Johannes Kepler in seinem berühmten Traumbericht über die Mondbewohner, Gebäude und Lebewesen auf diesen öden, lebensfeindlichen Gesteinsbrocken fantasierten, an dem seit Jahrhunderten allein das rätselhafte Gesicht trostreich ist, das man mit ein wenig Fantasie und Furcht in ihm erkennen kann: ein alter Mann, der den Mund geöffnet hat, als hole er tief Luft nach einem anstrengenden Marsch.Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, dass ich durch ein Teleskop geblickt habe. Es war vor einigen Jahren im Haus eines befreundeten Musikers. Zum ersten Mal in meinem Leben betrachtete ich live
– Ich schau da gerne durch, sagte Frau Stennitzer. Ich komme oft hier herunter in Christophs Häuschen und sitze dann einfach da und …
Sie unterbrach sich, als sei das, was sie hatte sagen wollen, zu privat.
Im Grunde sah der Mann im Mond aus wie Angus Young, dachte ich. Diese halboffenen Lippen, dieses entrückte … Ich bemerkte, dass meine Gedanken zu wandern begannen, meine Konzentration zerfaserte und verteilte sich auf nebensächliche Dinge. Also atmete ich einmal tief durch, legte einen Finger an die Nasenspitze und sagte:
– Wo ist denn Christoph, wenn ich fragen darf?
– Ja, er ist … Wissen Sie, das ist kompliziert, wir … Wir haben da so eine Übereinkunft, was Besucher angeht.
– Privatsphäre schützen und so, sagte ich.
– Ja, in gewisser Weise.
– Er mag keine Leute, die zu ihm kommen und ihm Fragen stellen, klar, das würde mir nicht anders gehen. Aber wo hält er sich denn gerade jetzt auf, während wir hier in seinem Zimmer
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