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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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großen Anstrengung ausruhen lassen.
    Wir gingen durch die Terrassentür in den Garten. Ein paar Apfelbäume standen dort, auch einige Hecken und anmutig verwilderte Sträucher. Neben dem Zaun, der die Grundstücksgrenze markierte, gab es einen kleinen, konisch aufgeschichteten Erdhügel, dessen Zweck ich aus der Entfernung nicht genau bestimmen konnte; vielleicht ein Gartenkunstwerk. Das Häuschen, wie Frau Stennitzer es in der E-Mail genannt hatte, war, wie sich herausstellte, ein richtiges kleines Haus.
    Wir traten ein. Auch hier roch es in fast schon betäubendem Maße nach Febreze und noch etwas anderem, noch bitterer, herber.
    Eine Luftmatratze lag gleich hinter der Tür zum ersten Zimmer, das Christophs Schlafzimmer war.
    Frau Stennitzer seufzte und schob die Luftmatratze mit ihrer Schuhspitze zur Seite.
    Mein Blick fiel zuerst auf die vielen Bücher im Zimmer: Harry Potter, andere Fantasybücher, Terry Pratchett, aber überraschenderweise auch eine dicke Biografie von Frédéric Chopin. Und ein Exemplar von Philip K. Dicks Ubik.
    – He, sagte ich. Mein Lieblingsroman.
    Ich deutete auf das Buch. Frau Stennitzer seufzte:
    – Ach, tatsächlich, ja?
    Ein halb auseinanderklaffendes Akkordeon. Mehrere Tennisschläger. Ein Poster von Keanu Reeves im Matrix-Outfit. Ein paarMedikamente auf einem Tisch neben dem Bett. Sviluppal las ich auf einer Flasche.
    Frau Stennitzer legte die Luftmatratze auf das Bett.
    – Keine Ahnung, wozu die immer hier herumliegen muss, sagte sie. Aber ohne sie geht es nicht, er bläst sie jede Woche neu auf. Davon wird ihm manchmal schwindlig. Aber er mag die Luftmatratze. Auf ihr hat er Lesen gelernt, wissen Sie. Der Herr Magister Baumherr von der APUIP hat uns damals einen privaten Tutor empfohlen. Ein wirklich großartiger junger Mann war das. Passionierter Fotograf, sehr kultiviert, geduldig mit Christoph und seinen Eigenheiten. Seitdem liegt die Matratze ständig hier herum. Er war ja so lange Zeit Analphabet, wissen Sie. Er hat sich geweigert, es zu lernen. Er war bekennenderAnalphabet, bis er etwa acht Jahre alt war.
    Diese Formulierung brachte mich ein wenig durcheinander. Dass eine Mutter so über ihr Kind sprach, erschien mir ungewöhnlich. Der Begriff Analphabetist mit einem unbestimmten Grauen besetzt, wahrscheinlich der Grund dafür, warum Kinder, die nach Jahren aus einem Kellerverlies entlassen werden, immer als Erstes auf ihre Lesefähigkeit untersucht werden. Eine ähnlich grauenerregende Strahlung geht ansonsten nur von offen asexuellen Menschen und verhinderten Selbstmördern aus. Sie entziehen sich unserer Welt, sitzen herum, mit allem fertig, und warten nur auf die Gelegenheit, sich wieder auszuklinken, zurückzukehren zu der Ruhe, von der sie gekostet haben. Aber bekennend? Das Wort ergab überhaupt keinen Sinn. Wie konnte ein achtjähriger Junge sich zu seinem Analphabetentum bekennen?
    In Christophs Schlafzimmer gab es viel Spielzeug, und alles war wirklich ordentlich und liebevoll eingerichtet, ein freundliches Drachen-Tapetenmuster und vollkommen staubfreie Zimmerecken. Ein so makelloses Zimmer beschwor in mir sofort Erinnerungen an jenen entsetzlichen Raum herauf, in dem vor Kurzem ein fünfjähriges Mädchen in Wien verdurstet und verhungertwar. Nicht einmal die Zimmerpflanzen waren von ihm angenagt worden, obwohl sie durchaus in Reichweite gewesen wären. Die Tür war abgesperrt, die Eltern für mehrere durchfeierte Tage und Nächte außer Haus gewesen, und die Beamten stellten als Erstes tatsächlich fest: nirgends Zahnabdrücke. Weder im Holz des Türrahmens noch auf dem abblätternden Wandverputz, noch an den eigenen Handgelenken –  nirgends . Das Wort geisterte wochenlang durch die Zeitungen. Meine Freundin und ich diskutierten die Frage, was denn nun schlimmer und grauenvoller wäre, Zahnabdrücke an allen möglichen und unmöglichen Stellen des Zimmers oder eben keine Zahnabdrücke – und so dumm es klingt, ich weiß heute nicht einmal mehr, welchen Standpunkt ich und welchen sie bei dieser unheimlichen Diskussion vertrat, aber ich glaube, am Ende gewann doch die Abwesenheit von Zahnabdrücken, und wir redeten und rollten nervös im Bett herum bis spät in die Nacht und hatten dann beide verdientermaßen entsetzliche Albträume. Ich meine mich sogar zu erinnern, dass ich irgendwann, auf eine spätnächtlich verdrehte und übermüdete Weise, auf das arme Mädchen wütend wurde, weil es so furchtbar widerstandslos gestorben war, wie in stiller

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