Indigo (German Edition)
Nachtkästchen neben dem Bett ein und setzte mich davor. Unter dem friedlichen Hintergrundgemurmel der Fernsehsendung, in der es um das Leben der Reptilien in einem Kölner Tierpark ging, sah ich noch einmal alle meine Notizen durch und ordnete sie ein wenig für morgen. Denn ich hatte vor, gleich nach dem Aufstehen zu den Stennitzers zu gehen. Wir hatten keine genaue Uhrzeit vereinbart. Wir sind ja immer da, wo sollen wir denn hin.
Schon in der ersten E-Mail von Frau Stennitzer (die ich, wie alle anderen, ausgedruckt und zu meinen Notizen gelegt hatte) war mir der tendenziell dramatische Ton aufgefallen, den sie alle paar Zeilen anschlug, der Ton eines Menschen, der schon lange mit niemandem mehr über seine Probleme sprach und davon ausging, dass er ohnehin nicht mehr verstanden werden würde, jetzt, nachdem er so lange im Verborgenen gelitten hatte. Aber möglicherweise steckte auch noch etwas anderes dahinter, denn die Stennitzers lebten, wie es schien, gar nicht isoliert. Gudrun Stennitzer erwähnte an mehreren Stellen ihren Nachbarn, der oft zu Besuch komme, und auch einen niederländischen Mediziner, der sie vor einem Jahr wegen einer Forschungsarbeit alle paar Monate aufgesucht habe.
Ich legte mich aufs Bett und masturbierte ein wenig zu einer Telefon-Frau, die darum bettelte, angerufen zu werden. Sie schielte,was mich ihr gegenüber aus irgendeinem Grund sehr zärtlich und fürsorglich stimmte und es schwierig machte, auf erotische Gedanken zu kommen. Die Frau blickte dramatisch nach links und nach rechts, beschirmte dabei mit der Hand ihre Augen, aber immer noch klingelte das Telefon nicht, dabei ging alle paar Sekunden ein Alarm mit rotierendem Blaulicht im Studio los und verkündete, dass der zu gewinnende Geldbetrag gerade um zweihundert Euro gestiegen sei.
Als das Mitleid mit ihr zu stark wurde, gab ich auf und rollte mich in die Decke. Nachdem ich einen Sender gefunden hatte, dessen Nachtprogramm mir harmlos genug erschien, um über meinen Schlaf zu wachen, stellte ich den Ton auf die leiseste Stufe, nur einen Strich von der vollkommenen Lautlosigkeit entfernt, und schloss die Augen.
Am besten schlief ich normalerweise zu Space Night , das oft spätnachts auf BR-alpha gezeigt wurde, wunderbar schwebende Aufnahmen aus der Erdumlaufbahn, der verlangsamte Tanz von Astronauten an ihren Nabelschnurschläuchen, während sie Solarrezeptoren reparierten oder Antennen neu einstellten, und unter ihnen schwammen Kontinente und zogen verwirbelte Wolken über den Atlantik. Aber im Programmangebot des Hotels fehlte dieser Sender, also musste ich mich mit einer N24-Dokumentation über die Herstellung und das Verladen von Schiffscontainern zufriedengeben.
* Stark gekürzt erschienen in: National Geographic (Deutsche Ausgabe), Januar 2007.
Glockenhofweg 1
Am nächsten Morgen saß ein Mann mit Brille an der Rezeption. Also stellte ich noch einmal dieselbe Frage. Ich müsste bitte hier hin, erklärte ich und las von dem zerknitterten Zettel ab: Glockenhofweg 1 , Familie Stennitzer …
Auf dem Bildschirm hinter dem Mann lief ein stummer Videoclip der Band AC/DC. Der schwitzende Gitarrist Angus Younghüpfte wie ein hinkender Vogel über die Bühne, und sein Mund sah aus, als trinke er Luft in großen Schlucken.
– Ja, das ist da draußen, meinte der Mann. Aber ich hab das jetzt gerade nicht vor mir. Irgendwie …
– In welche Richtung ungefähr?
– Ja, wir können auf dem Plan nachschauen, wenn Sie wollen.
Er drehte sich um, klickte das Fenster mit dem hüpfenden Rockstar weg und öffnete Google Maps.
– Waren Sie denn noch nie da oben?, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
– Sie wohnen wahrscheinlich nicht hier im Ort.
– Doch, sagte er. Aber da hinauf gehe ich nicht. Gibt für mich keinen Grund.
Während der Drucker an dem Blatt Papier würgte, standen wir schweigend voreinander. Ich steckte den Ausdruck ein, bedankte mich und ging in den Frühstücksraum. Als ich wieder zurück in den Eingangsbereich kam, sah ich, dass der Mann mit der Brille und die junge Frau von gestern Abend an der Rezeption saßen und sich leise unterhielten.
Der Mann hob, als er mich kommen sah, den Käfig mitsamt Vogel hoch und stellte ihn auf den Boden. Dann verschwand er durch eine Hintertür, die Frau blieb zurück. Sie lächelte mich an, als ich an ihr vorbeiging. Der Vogel gab ein leises Ratschen von sich.
Gestärkt von meinem Frühstück, das aus einem Glas frischgepresstem Orangensaft bestanden hatte, ging
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