Indigo (German Edition)
ich hinauf zum Haus der Familie Stennitzer. Ich war unheimlich aufgeregt und hörte mir, um mir ein wenig Mut zu machen, auf meinem iPod zuerst Sweet Home Alabama von den Leningrad Cowboys an, dann Joyride von Roxette, den Anfang von Le Sacre du Printemps, dirigiert von Valery Gergiev, und schließlich Stop the Rock von Apollo 440 .
Der beschwingte Gang des Fremden musste auf die Menschen, die mir an dem sonnigen Morgen dieses Tages begegneten, seltsam gewirkt haben. Und erst recht der Gesang:
– Shake my paranoia … can’t stop the rock … shake my paranoia …
Dieses Lied vertrieb jedes Mal alle melancholischen oder tiefsinnigen Gedanken und machte mich leer und aufnahmebereit wie ein trockener Schwamm – der ideale Zustand für ein Interview. Doch wurde dieses Hochgefühl bald wieder getrübt durch den Eindruck, den die Leute im Ort auf mich machten. Sie erschienen mir alle seltsam langgestreckt und übertrieben aufrecht, wie Figuren auf einem Deckenfresko, die den Kuppelraum, in dem sie leben, nie ganz ausfüllen können. Zweibeinige Echsen. Vielleicht hatte meine Wahrnehmung etwas zu tun mit meiner eigenen zusammengestauchten Haltung an jenem Morgen, vielleicht auch mit der für mein Raumgefühl ungewohnten Bergkulisse. Es waren keine hohen Berge, eher Hügel, die den Ort umgaben, aber sie waren doch immer da, erwarteten einen am Ende jeder Straße und intimen Seitengasse, wie abgewandte Wesen, deren Schultern man studieren muss, um einen Hinweis auf ihre Stimmung zu bekommen.
Frau Stennitzer war eine kleine, angenehm proportionierte Frau Mitte vierzig. Sie hatte langes Haar, ein bleiches Gesicht mit tiefen, charaktervollen Augenhöhlen und einem schmalen Mund, der ungewöhnlich rot leuchtete, wie ein Karo auf einer Spielkarte. Sie begrüßte mich am Gartentor ihres Grundstücks. Sie verbringe oft ganze Tage hier draußen, in der Gesellschaft ihrer Pflanzen, sagte sie. Im Haus war es kühl, die Heizung war noch nicht in Betrieb. Erst wenn der September richtig begonnen hat, meinte Frau Stennitzer. Also ließ ich meinen Mantel an.
Ich hätte doch meinen Schal mitnehmen sollen, dachte ich. Das Wohnzimmer war besonders kalt. Aber Frau Stennitzer schien sich an die niedrige Temperatur in ihrem Haus gewöhnt zu haben. Neben der Kälte fiel mir auf, dass während der ganzen Zeit, die ich im Haus verbrachte, das Gerüttel einer Waschmaschine zu hören war. Alle paar Minuten legte sie eine kurze Pause ein, dann fing sie wieder an.
Wir setzten uns. Frau Stennitzer legte beide Hände an die Schläfen und machte ein paar kreisende Bewegungen.
– Haben Sie …?, fragte ich.
– Was? Kopfschmerzen?, fragte sie.
– Nein, das wollte ich damit nicht sagen.
– Doch, ist schon in Ordnung, sagte sie. Bitte, Sie müssen bei mir in der Richtung nicht vorsichtig sein.
– Okay.
– Es geht schon, sagte sie. Ist ja nichts Neues.
Ein nervöses Lächeln.
Die Luft im Zimmer roch stark nach einem Raumspray. Die Flasche stand neben dem Tisch auf dem Boden, Febreze. Daneben noch eine. Auch im Regal entdeckte ich eine Flasche, aber mit einem anderen Etikett.
– Ja, also, vielen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, mit mir zu sprechen.
– Ach, mein Gott, sagte Frau Stennitzer und legte eine Hand auf ihr Schlüsselbein. Ich bitte Sie, das ist doch nichts. Wenn es hilft.
Wir schwiegen. Ich kramte meinen Notizblock aus meiner Tasche.
– Vielleicht möchten Sie gleich in den Garten gehen? Das Häuschen …
Sie sagte das wie ein müder Museumsführer, der den Besuchern als Allererstes immer die Mona Lisa zeigen muss, obwohl Hunderte um vieles interessantere Gemälde ringsum an den Wänden hängen.
– Ja, das würde ich gern. Wenn das für Ihren Sohn –
– Ach ja, klar, ist in Ordnung. Er ist ja jetzt nicht in seinem Zimmer.
– Wo ist er denn?
Frau Stennitzer lachte, blickte auf ihre im Schoß gefalteten Finger und sagte dann:
– Sie wollen also sein Zimmer gern mal sehen, ja?
– Wie gesagt, gern, wenn ihn das nicht stört.
– Oh, na ja, er ist nicht da, also …
– In Ordnung. Aber ich meinte: nur, wenn es ihm nichts ausmacht, dass fremde Leute in seiner Abwesenheit seinen Privatbereich betreten.
– Ich bin ja nicht fremd. Und Sie sind bei mir, also ist das okay, meinte Frau Stennitzer.
Wenn sie einen Satz zu Ende gesprochen hatte, spitzte sie jedes Mal ein wenig die Lippen und schob das Kinn vor, so als müsste sie ihre Lippen und die Kiefermuskulatur von der
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