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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Konstruktion einfach nicht zu. Und so fahre man eben im Kreis, die ganze Zeit, mehr oder weniger getrennt voneinander, jeder für sich. Wenn man schon mit Bildvergleichen kommen müsse, so Frau Stennitzer, dann wenigstens so, nicht mit diesem heilig-nüchternen Zauberstahl vom Meeresgrund! Im Übrigen sei Abstand halten ja auch gesund, an und für sich, bei gewissen Tänzen berühre man einander zum Beispiel gar nicht, sagte sie, man spiele nur mit der Aura des anderen wie auf einem Theremin und auch beim Ballonfahren dürfe man sich bekanntlich nicht zu weit einem anderen, ebenfalls im Äther schwebenden Ballon nähern, weil dann, ach, was weiß ich, diese Verwirbelungen der Luft oder was immer das ist. Irgendwelche thermischen Phänomene seien das, sagte Frau Stennitzer, aber was genau, habe sie vergessen.
    Ohne nachzudenken, erzählte ich ihr von einem Duell, über das ich vor Kurzem gelesen hatte. Es fand Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Paris statt, zwischen zwei tollkühnen Herren, Monsieur de Grandpré und Monsieur Le Pique, um die Gunst von Mademoiselle Tirevit, einer bekannten Tänzerin. Die Kontrahenten stiegen damals mit zwei Ballonen rund 700 Meter hoch über die Tuilerien und schossen abwechselnd auf die gegnerische Ballonhülle. Grandpré gewann, Le Pique stürzte mit seinem Ballon (und seinem Sekundanten an Bord) auf ein Hausdach und starb.
    – Er hat sich letztes Frühjahr auf das Dach gestellt, sagte Frau Stennitzer.
    – Und dann hat sich die Tirevit –, begann ich. Entschuldigung, was?
    – Er. Er ist hinaufgestiegen.
    – Ihr Sohn?
    Sie nickte.
    Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Ballon-Anekdote überhaupt nicht zum Thema passte.
    – Ja. Und dann, als er dort oben war … ach, es war eine unheimlich … (sie formte mit ihren Händen einen unsichtbaren Schneeball) … eine unheimlich kompakte Zeit damals, wissen Sie? So, als könnte man nicht mehr herauskommen, sondern sich nur noch enger darin verstricken, wenn man … na ja.
    – Wollte er sich etwas antun?
    Sie zuckte die Achseln:
    – Weiß keiner. Nicht einmal er selbst, wie es scheint. Später hat er gesagt, er kommt halt nicht so viel raus. Vor die Tür.
    Ich sagte nichts.
    – Er ist dann wieder allein runtergestiegen, sagte Frau Stennitzer. Irgendwann. Ist wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich. Der Körper wird müde. Er ist heruntergekommen, und wir haben geredet, den ganzen Tag haben wir geredet … und ich hab ihn umarmt, obwohl er das … na ja, obwohl natürlich … ach, ich weiß nicht, wohin das noch alles führen wird, wissen Sie? Ich meine, seit letztem Sommer kommen immer wieder Jugendliche aus dem Ort herauf und stellen sich vor sein Fenster.
    – Sie stellen sich vor sein Fenster?
    – Ja, klettern bei uns über den Zaun, Sie haben ihn ja gesehen, da kommt jeder leicht drüber, mit ein bisschen Anlauf.
    – Und was machen sie dann bei ihm?
    – Aushalten, sagte sie, und ihre Stimme war nun so weit entfernt, als käme sie aus einer Raumkapsel. Sie halten aus, stehen da, in einem Kreis. Manchmal sogar mit einem Radio. Und halten aus.
    – Halten aus?, wiederholte ich dumm.
    – Mutprobe.
    Die Raumkapsel entfernte sich noch weiter.
    – Sie trinken Bier aus Dosen, die sie dann überall im Garten liegenlassen, sagte Frau Stennitzer. Sonst lassen sie nichts zurück.
    – Und was sagen sie, wenn Sie sie verscheuchen?
    – Das ist ja das Problem, sagte Frau Stennitzer und blickte zur Decke. Sie sagen, okay, wir gehen, aber der Typ hier am Fenster möchte gern, dass wir bleiben.
    – Christoph?
    – Ja, er … er sitzt am Fenster und redet mit ihnen. Während sie schwitzen und in die Büsche kotzen, es ist einfach so widerlich, ich könnte ihn dann jedes Mal ohrfeigen!
    – Also sind es seine Freunde?
    – Freun–! Nein, es sind … Nein, warum sagen Sie so etwas?
    – Entschuldigen Sie, aber es hört sich so an, als wären es Jugendliche, die zu Ihrem Sohn kommen und mit ihm … na ja, abhängen.
    – Sie nutzen ihn aus! Sie kommen, um zu sehen, wie lange sie’s bei ihm aushalten. Mein Gott, ich könnte ihn ohrfeigen, jedes Mal, das schwöre ich Ihnen, aber ich bringe es einfach nicht über mich.
    – Sie zu vertreiben?, fragte ich, da mir unklar war, worauf sich ihr Satz eigentlich bezog.
    – Genau, sagte sie mit ihrer Raumkapselstimme. Er kriegt auf diese Art ein bisschen Kontakt. Aber dass es böse Menschen sind, die sich mit ihm nur aus egoistischen Motiven abgeben? Das begreift

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