Indigo (German Edition)
weg … Als Nächstes geschieht es wahrscheinlich auf dem Mond. Aber hier, ich meine, wir sehen es doch, wir leben doch damit. Es wird nicht weniger.
– Bemerken Sie gar keine Entwicklung?
– Außer dass ich mich gewöhne …
– In der Fachliteratur werden einige Fälle erwähnt, die –
– Ja, das ist eben das Problem, die werden immer nur erwähnt, und die Leute, um die es da geht, sind nur mit Initialen vertreten, und kein Mensch weiß, was das eigentlich soll, diese Geheimniskrämerei.
Eine Pause entstand, während deren ich mein Notizbuch höflich zuklappte, um Frau Stennitzer zu erlauben, richtig wütend zu werden.
– Ich meine, ich verstehe diese Leute nicht, die solchen Unfug schreiben, sagte sie. Die müssen ja nicht mit ständiger Übelkeit und Schwindel leben und mit Hautausschlägen und Durchfall, das ist für die nur eine Liste von Krankheitssymptomen! Das ist nichts, was ihr Leben betrifft. Es ist immer dieselbe Scheiße, überall! Aber kaum spricht das einer mal aus, geht’s auch schon los: Ja, die ist eben burnt out, die ist halt nicht so der Familientyp, wird schon auch an der emotionalen Überforderung liegen – nein! Leben Sie mal vierundzwanzig Stunden im Einzugsgebiet von diesem …
Sie führte einen Fingerknöchel an die Oberlippe, um sich zu bremsen. Es funktionierte.
– Entschuldigung, sagte sie. Sie wollen bestimmt nicht von mir vollgejammert werden.
Ich unterdrückte gerade noch rechtzeitig den Satz Aber dafür bin ich doch gekommen und nickte nur auf eine, wie ich hoffte, verständnisvolle Weise.
– Aber wünschen Sie es sich für Christoph?
– Was?
Ihr Blick war aufrichtig ratlos.
– Dass es besser wird, wenn er erwachsen ist.
– Nein, ich habe da keine Hoffnungen, sagte sie. Ganz ehrlich. Ich bin Realistin.
Die trockene Luft im Raum hatte meine Stimme wieder rau gemacht. Ich fragte, ob wir hinaus in den Garten gehen könnten. Frau Stennitzer lächelte.
– Er ist schon weg, sagte sie. Geht gleich vorbei.
– Nein, es ist eher die Luft hier drin, sagte ich.
– Okay, sagte sie mit einem etwas verdutzten Gesicht. Okay. Wie Sie wollen.
Die Gegenwart der Apfelbäume tat mir gut, außerdem wehte ein südlich warmer Wind ums Haus, in dem der eigene Körper leichter zu werden schien, sich von der bewegten Luft einfangen ließ. Ich bemerkte den kegelförmigen Erdhügel am Rand des Grundstücks und ging darauf zu. Frau Stennitzer folgte mir. Als ich nahe genug war, fragte ich, was das sei.
– Nur ein Versuch, sagte sie.
Dann erwähnte sie, als hätten wir die ganze Zeit darüber gesprochen, dass es für Indigo-Kinder sogar eine eigene Begräbnisordnung gebe. Auf privatem Grund dürfen sie in gewöhnlichen Gräbern bestattet werden, auf öffentlichen Friedhöfen jedoch nur in einer Urne, als Asche. Dabei sei es nicht einmal zweifelsfrei geklärt, ob ihre schädliche Wirkung auch über den Tod hinaus noch bestehen bleibt. All das kam mir extrem unglaubwürdig vor, und ich hatte das Gefühl, von meiner Gastgeberin auf den Arm genommen zu werden. Aber Gudrun Stennitzer sagte das alles, als redete sie über das Wetter. Als ich schließlich begriff, dass sie es ernst meinte, erschien mir ihre Geschichte wie ein furchtbarer Raub. Als würde einem Menschen eine der zwei großen Aufgaben entrissen, für die er auf der Welt ist, nämlich teilzunehmen an dem köstlichen Fest, das einem toten Körper in der Erde von all den Mikroorganismen bereitet wird, die ameisengleich winzige Stücke davontragen, verdauen und umwandeln, von den Wurmwesen und Maden, die ihre Tunnel durch den Toten graben. In einem Text des tschechischen Schriftstellers und Immunologen Miroslav Holub gibt es eine Beschreibung dieser wunderbaren und ungeheuren Vorgänge. Eine Ratte ist in den Swimmingpool von Holubs Nachbarn gefallen, und anstatt ihr herauszuhelfen, schießt der Nachbar mit einem Gewehr auf sie, wodurch das arme Tier buchstäblich in der ganzen Gegend verstreut wird. Und Holub, der vielleicht von allen Dichtern des vergangenen Jahrhunderts – mit Ausnahme von Sebald und Kafka – derjenige mit der am stärksten entwickelten, aber auch eigentümlichsten Empathiefähigkeit ist, beschreibt nun das, was mit der toten Ratte passiert, mit ihren Blutzellen, mit den mikroskopisch kleinen Puzzlesteinen ihres Körpers, den Flüssigkeiten und festen Stoffen, aus denen sie bestand, er beschreibt die Transformationen und chemischen Interaktionen, die unmittelbar
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