Indigo (German Edition)
er nicht. Nein, dafür ist er zu … na ja, zu wenig welterfahren, würde ich sagen.
– Wie sollte er auch, setzte sie bitter hinzu.
Und als ich immer noch nichts sagte, fluchte sie:
– Warum können sie nicht Abstand halten, dieses Gesindel?
Ich erinnerte mich daran, gelesen zu haben, dass Menschen, die auf dem Mount Everest höhenkrank werden und nicht mehr weitergehen können, oftmals nicht gerettet werden. Auf hohen Bergen halten die Menschen Abstand zueinander. Manchmal steigen andere Alpinisten an den verwirrten und halluzinierenden Kollegen, die im Schnee sitzen oder liegen, vorbei und berichten hinterher davon. An David Sharp, der 2006 auf dem Mount Everest im Sterben lag und um Hilfe bettelte, gingen schätzungsweise vierzig Bergsteiger vorüber. Dieses Bild brachte mich auf eine bekannte Schriftstellerin aus meiner Heimatstadt, die schon seit Jahren kein Buch mehr veröffentlicht hat, aber dennoch hin und wieder zu einer Lesung eingeladen wird. Unmittelbar nachdem sie ihren Text vorgetragen hat, entschuldigt sie sich meist bei den Zuschauern mit dem Hinweis, dass sie eine vielbeschäftigte Autorin sei, und geht eilig davon, während die anderen Autoren, die zusammen mit ihr lesen (sie wird niemals allein irgendwohin eingeladen, denn es käme wahrscheinlich niemand), zurückbleiben und bis zum Ende der Veranstaltung ihre Kollegen mit ihrer Anwesenheit beehren. Einmal wollte es der Zufall, dass ich von einer dieser Lesungen, die noch dazu unter freiem Himmel stattfand, ebenfalls früher gehen musste. Da sah ich sie, wie sie in großer Entfernung, praktisch unsichtbar für die Zuschauer, reglos verharrte, die Schultern hochgezogen und das Sommerkleid locker an ihrem Körper hängend, als stünde sie an einem Meeresufer. Sie musste dort schon über eine halbe Stunde lang gestanden sein, in Betrachtung der Sphäre ihrer Kollegen, aus der sie sich jedes Mal, kaum hatte sie sie betreten, sofort wieder verabschiedete.
* Stark gekürzt erschienen in: National Geographic (Deutsche Ausgabe), Februar 2007.
Interview mit den Jugendlichen
Verwirrt hatte ich mich von Frau Stennitzer verabschiedet und ging, wie ich hoffte, in Richtung Hotel, um mich auszuruhen. Meine Gedanken wanderten ständig davon, und ich bemerkte überall Dinge, die mir um vieles interessanter erschienen als der eigentliche Grund meines Besuches in dem Ort. Ich brachte es sogar fertig, mich in den wenigen Straßen und Gassen zu verlaufen, und mehrere Male musste ich an einer Mauer, die ich noch nie gesehen hatte, umkehren. Ich versuchte, meine Freundin zu erreichen, aber ich befand mich gerade in einer jener räumlichen Verschnaufpausen, die man Funkloch nennt; das Handy hatte nur noch sich selbst, streckte seine unsichtbaren Fühler in die Luft, erreichte aber niemanden damit.
Es dauerte ein wenig, bis ich auf den Hauptplatz von Gillingen kam. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich fast eine Dreiviertelstunde durch den Ort marschiert war.
Dann sah ich sie. Drei Jugendliche, zwei davon glatzköpfig, so wie in Frau Stennitzers Beschreibung. Sie kamen gerade durch die Tür des Wirtshauses, zwei ältere Burschen und ein fünfzehn oder sechzehn Jahre altes Mädchen, das wahrscheinlich die landbevölkerungstaugliche Variante von Goth repräsentieren sollte. Die Burschen überragten sie fast um einen ganzen Kopf.
Sie blieben stehen, schauten mich kurz an. Dann gingen sie weiter. Ich folgte ihnen in deutlichem Abstand, ohne Eile. Einige Male musste ich stehen bleiben und im Schutz irgendeiner sonnenbeschienenen Hausmauer verschnaufen. Um meine plötzliche Angst, die unmerklich während meines Irrgangs durch den Ort gewachsen war, zu betäuben, stellte ich auf meinem iPod Monk’s Mood von Thelonious Monk in Endlosschleife ein und versuchte, ganz normal und gleichmäßig mit den Akkorden zu atmen. Schließlich holte ich die Jugendlichen an einer Brücke ein. Hier standen keine Häuser mehr, das ging schnell in dieser Gegend, ein unachtsamer Schritt, und man steht im Niemandsland, das man sonst nur aus Zugfenstern zu sehen bekommt. Schief aus dem Boden wachsendes, leidenschaftslos und uninteressiert wirkendes Gras, halb asphaltierte Straßen und jede Menge seltsame Gerätschaften, die am Wegrand stehen, noch nicht Natur, aber schon nicht mehr Zivilisation.
– Entschuldigung, rief ich. Darf ich euch was fragen?
Keine Reaktion. Aber sie liefen nicht weg, also verstand ich das als Einladung.
– Hallo, sagte ich im Näherkommen.
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