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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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einsetzen – so lange, bis man vor lauter Erde und Blut und Lebewesen am Ende den Tod der Ratte völlig vergessen hat. Es hilft und befremdet gleichermaßen, wenn man weiß, dass Holubs Brotberuf für lange Jahre das planmäßige Quälen und Vergiften von Labortieren war. Als Immunologe spezialisiert auf die Bekämpfung und Prävention von Seuchen, hatte er die eigens für das raumstationartige Leben im Labor gezüchteten Nagetiere den entsetzlichsten Einflüssen auszusetzen, die man sich vorstellen kann, tödlichen Erregern und toxischen Substanzen, in ihrer Wirkung unerforschten Impfstoffen und extremen Temperaturen. In einem Interview sagte er einmal, dass die Gedichte, die er abends schrieb, meist als Reaktion auf einen mit sinnlosen Mausquälereien verbrachten Arbeitstag entstanden. Wie kann man es sich erklären, dass dieser Mann, der eine Nacktmaus nach der anderen mit seinen Science-Fiction-Apparaturen auf die denkbar entsetzlichste Weise aus der Welt schaffte, das berührendste Schmetterlingsgedicht überhaupt verfasste (die Konkurrenz ist groß!) und selbst noch die Beschreibung eines anenzephalen Kindes, das mit seinem leeren, kurz nach der Geburt noch ein wenig pulsierenden beutelartigen Hinterkopf in einem Behälter liegt, in dem es auf den Tod wartet, der sich etwas verspätet hat, so zärtlich ausfallen lässt, dass sich einem beim Lesen der Brustkorb bläht, als verwandelte man sich in den leibhaftigen Hindenburg-Zeppelin – wie, zum Teufel, ist so etwas möglich?
    Ich weiß nicht, ob es Absicht von Gudrun Stennitzer war, mich neben dem kleinen Gehege mit dem kegelförmigen Erdhügel einfach stehenzulassen. Es ist gut möglich, dass sie darüber gar nicht nachgedacht hat, sondern einfach irgendwann zurück ins Haus gegangen war, in einem Moment, der ihr nicht geeigneter erschien als irgendein anderer. Jetzt stand ich jedenfalls allein in der Sonne, atmete Bienensummen und verschiedene Schattierungen von Grün ein und wartete, indem ich mehrere Male hintereinander minutenlang auf meine Armbanduhr schaute, bis ich wieder einigermaßen gefasst und vorzeigbar war, und ging dann ebenfalls zum Haus zurück. Ich gebe zu, dass mir in diesem Augenblick der Satz Ich bin in der Hölle durch den Kopf ging, und aus irgendeinem Grund musste ich, während ich die rätselhafte Gegenwart des Erdkegels hinter mir ließ, an die bemerkenswerte Einsicht von James Merrill denken. No souls came from Hiroshima you know / Earth wore a strange new zone of energy. Auch in Tschernobyl, dachte ich, hat man mit Sicherheit keine Geister von Verstorbenen mehr antreffen können, nicht einmal im Traum. Die verstrahlten Ruinen sind zu weit von uns entfernt. Sie sind auf eine metaphysische Weise steril, reingewaschen, formatiert. Als ich zurück in die Küche kam, sah ich Frau Stennitzer, wie sie sich ihre Stirn und ihren Nacken mit einer weißen Creme aus einer kleinen, schwarzen Dose bestrich, die aussah wie ein Behälter für eine Filmrolle.
    – Möchten Sie auch?, fragte sie. Es hilft.
    Da ich keine Ahnung hatte, was ich darauf erwidern sollte, begann ich Frau Stennitzer von dem Vorwort in Das Wesen der Ferne zu erzählen, die Geschichte mit den versunkenen Kriegsschiffen und dem unverstrahlt gebliebenen Stahl.
    Sie nickte. Ja, sie habe schon davon gehört. Schon oft, um die Wahrheit zu sagen. Das sei eben die winzig kleine Hoffnung damals gewesen, dass diese Kinder irgendeinen Vorteil haben, vielleicht sogar irgendwelche spirituellen Fähigkeiten, die andere nicht haben, und so weiter.
    Sie schraubte die Dose zu und wischte sich die Finger an ihrer Hose ab.
    Aber natürlich sehe die Wirklichkeit ganz anders aus, sagte sie. Es gebe schon einige begabte I-Kinder, allerdings nur im Bereich der Leseleistung.
    – Dazu gibt es Studien?, fragte ich.
    – Na ja, Kunststück, sagte Frau Stennitzer. Wenn Sie, egal wohin Sie gehen, immer den Mittelpunkt einer ungefähr zehn Meter durchmessenden Sperrzone bilden, dann beginnen Sie auch irgendwann, Bücher zu lesen oder sich mit dem Computer zu unterhalten. So läuft das, nicht andersrum.
    – Gehen Sie eigentlich regelmäßig in die Zone? Oder bleiben Sie bewusst draußen?
    Na ja, sagte sie, sie sehe es gar nicht als Zone, der man sich nähern und mit der es Überschneidungen geben kann. Sie sehe es mehr als Riesenrad. In einem Riesenrad gebe es verschiedene Kabinen und der Abstand zwischen den Kabinen bleibe immer derselbe, sie können sich einander nicht annähern, das lasse die

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