Indigo (German Edition)
Gell?
Die maskierte Gestalt, die offenbar ihr Sohn Christoph war, stand vom Sofa auf und kam auf mich zu. Wir schüttelten einander die Hand. Seine war eiskalt. Der riesige, groteske Osterinselkopf aus Pappe wackelte auf seinen Schultern hin und her.
– Hat das einen speziellen Sinn?
– Er möchte es so. Nicht wahr, Christoph?
Ein Wackeln, das wohl ein Nicken sein sollte.
– Ich hab mich wirklich erschrocken, sagte ich und hob meine Sachen vom Boden auf. Der Muffin war, wie ich sofort feststellte, vollkommen plattgedrückt. War ich draufgetreten, als ich vor Schreck nach draußen gerannt war? Sehr wahrscheinlich war das nicht; ich konnte mich zumindest nicht erinnern. Ich holte den Muffin aus der Papiertüte. Er sah aus wie ein überfahrenes Nagetier.
– Hihihihi, gackerte Frau Stennitzer immer noch.
Ich betrachtete den unheimlichen Kopf. Für eine gewöhnliche Faschingsmaske war er zu groß, aber gut möglich, dass es nur eine optische Täuschung war, weil er von einem Kind getragen wurde. Für seine vierzehn Jahre wirkte Christoph eher klein, er war dünn, die Haut auf seinen Armen war auffallend bleich, und seine Fußspitzen standen beim Gehen ein wenig in Pflugstellung. Jetzt, aus der Nähe betrachtet, war der Kopf gar nicht mehr so furchterregend, fand ich. Die ernste Stirn und die lange, charaktervolle Nase, die einen scharfen Schatten warf, erinnerten mich sogar ein wenig an das freundliche Gesicht von John Updike.
So saßen wir einige Zeit da, ich sprachlos, Mutter und Sohn in höflichem Schweigen, umgeben von hellen Fenstern.
– Drei Minuten, sagte Frau Stennitzer leise.
Sie könne es inzwischen bis auf die Sekunde genau berechnen,auch bei anderen Menschen. Das heißt: bei Fremden, so wie bei mir. Sie wisse genau, wann es für mich besser sei, auf Distanz zu gehen.
– Verändert sich sein Wert?
Frau Stennitzer schüttelte stumm den Kopf und schloss dabei für einen kurzen Moment die Augen.
– Hallo, Christoph. Mein Name ist Clemens. Ich schreibe eine Reportage über … Na ja, ich wollte fragen, wie’s dir so damit geht, ich meine, zu wissen …
Mein Satz brach in der Mitte auseinander, und beide Teile fielen zu Boden.
– Gut, sagte Christoph.
Seine Stimme wurde von der Maske gedämpft.
– Du wirst zu Hause unterrichtet, stimmt das?
– Mhm.
– Ich hab mal in einem Internat gearbeitet, in dem Kinder wie du leben. Würdest du manchmal gern in eine solche Schule –
Frau Stennitzer unterbrach mich:
– Wir haben ein Arrangement getroffen. Er kennt die Verhältnisse dort nicht. Wie soll er da antworten?
– Na gut, sagte ich. Sicher, klar.
– Ich lese gern Comics, sagte Christoph.
– Ach so, welche denn?
– Alles Mögliche, sagte er. Und Wrestling.
– Du magst Wrestling?
– Ja.
– Ich hab das schon lang nicht mehr angeschaut.
Frau Stennitzer deutete auf ihre Armbanduhr. Ich spürte nichts. Sie fasste sich an die Schläfen, lächelte aber weiter. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und räusperte sich. Christoph ging aus dem Zimmer.
Was mit Indigo-Kindern passiert, wenn sie älter und schließlich erwachsen werden, ist eine kontrovers diskutierte Frage. Nichtselten wird die Ansicht vertreten, dass es das Beringer-Syndrom gar nicht gibt und alles nur eine Frage der Einstellung ist. Ein Fall aus Australien ist bekannt, ein inzwischen zwanzig Jahre alter Mann namens Ken S., der behauptet, als Kind sehr starke Indigo-Symptome entwickelt zu haben, die seine Eltern schließlich dazu gebracht haben sollen, sich scheiden zu lassen, und seinen Vater angeblich in eine tiefe und lebensgefährliche Depression gestürzt haben. Heute arbeitet er in einem Call-Center und tritt hin und wieder in Talkshows auf, wo er gern darüber spricht, wie man sich mit positivem Denken von seinem eigenen Schicksal distanzieren kann. (Auch bei meiner eigenen Arbeit im Proximity Awareness and Learning Center Helianau am Semmering in Österreich habe ich Kinder erlebt, deren Wert allmählich zu- und deren Wirkung abgenommen hat. Aber selbst in diesen Fällen waren die Kausalitäten oft nicht klar ersichtlich.)
Solche Erzählungen von meinte sie. Ausgebrannte I-Kinder seien eine Tatsache. Aber: ausgebrannten Fällen waren Frau Stennitzer natürlich bekannt, und sie seufzte, als ich sie darauf ansprach. Ja, manchmal wachse oder brenne es sich aus,
– Ehrlich gesagt, das alles bedeutet mir nicht das Geringste. Ich meine, immer geschehen solche Sachen in Australien, weit, weit
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