Indigo (German Edition)
Händen und wartete, bis sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
– Stell dir vor: Jahrmarktbuden. Okay?
– Ja.
– Also Jahrmarktbuden. Und in einer davon hängen so Ballone. Luftballone, auf die du Pfeile werfen sollst. In allen möglichen Farben. Genau so sehen die aus.
– Die Schüler?
– Ja.
– Ich hab im Tierheim ein paar blaue Ratten, sagte Julia. Keine Ahnung, wieso die jemand aussetzt. Und eine andere, die hat eine ganz undefinierbare Fellfarbe. Zumindest sind sich alle total uneinig. Die einen sagen, sie ist braun, aber ich finde, sie hat mehr etwas Grünes. Andere finden, sie sieht rot aus. Hab ich dir erzählt, wo wir sie gefunden haben?
– Nein, lieber nicht, ich kann das jetzt nicht hören. Ich …
– Wirklich? Früher wolltest du doch immer wissen, wie’s den Tieren geht.
– Sicher, ich … Es macht mich momentan nur vollkommen fertig. Es ist alles so unheimlich in dem Institut. Dr. Rudolph hat von Relokationen gesprochen. Ich weiß nicht mal, was das sein soll. Aber gestern hab ich einen Schüler aus einer anderen Klasse gesehen, der in einer Art … ah, was war das … na ja, so einer Art Harlekinkostüm, wie ein Clown …
– Ich hasse Clowns.
– Ja, jedenfalls ist der in so einem Kostüm herumgelaufen, und später hat ihn der Chauffeur weggefahren, wahrscheinlich hinunter zur Bahnstation. Ein andermal war’s ein Schüler, der als Rauchfangkehrer … ach, egal. Diese ekelhafte Bergatmosphäre da oben, diese Landluft, das Gras … sogar das Gras ist feindselig. Es wächst einfach. Es kümmert sich nicht um die Menschen, um Gebäude. Nicht wie Stadtgras. Stadtgras ist respektvoll. Wie Stadttauben. Die haben sich arrangiert mit uns. Aber das Gras dort …
Ich stolperte in einem Hosenbein herum.
Julia stand auch auf.
– Aber weißt du was?, sagte ich zu ihr. Dein Tipp hat geholfen.
– Welcher?
– Der mit dem Schreiben. Mir vorstellen, wie diese Ding… Dinger später einmal aussehen und so.
– Das hab ich dir geraten?
– Ja.
Auf dem Bahnsteig der Station Payerbach-Reichenau flogen Zeitungen herum. Lahme Papiervögel, die wehrlos gegen den Wind waren. Im Grunde hatten sie nur auf dem Asphalt schlafen wollen, jetzt wurden sie in der Gegend herumgeworfen. Eine Zeitung flatterte mir sogar einige Meter hinterher, wie ein Kind, das bettelt, und ich überlegte kurz, ob ich sie adoptieren und mitnehmen sollte, aber dann ließ ich sie liegen.
An einem Trafohäuschen entdeckte ich ein kleines Graffitikunstwerk. Das in schwarzweißer Schablonentechnik gesprayte Gesicht eines Kindes. Sein angewiderter und dabei ungewöhnlich erwachsen wirkender Ausdruck und der misstrauisch zur Seite geneigte Kopf schienen jeden, der an ihm vorüberging, abzuurteilen. Ich senkte automatisch den Blick.
Auf den letzten Metern hin zum Institut drehte sich der Waldweg einmal um mich. Das passierte mir fast jedes Mal. Ich blieb kurz stehen und dachte an eine weiße Freitreppe, ein stilles, meine Gedanken ankerndes Bild. Manchmal half es auch, mir einen Kometen vorzustellen, ein unbeweglich am Himmel stehendes Objekt, an dem man sich mit den Augen festhalten konnte.
Im Lehrerzimmer trank ich einen Becher grünen Tee, den ich mir aus dem Automaten geholt hatte. Ich hatte noch etwas Zeit, also nahm ich meine rotkarierte Mappe (ein Geschenk meines Vaters zu meinem fünfzehnten Geburtstag) aus dem Rucksack. Ein Stück entlastende Wirklichkeit inmitten der irrealen Materialien für den Mathematikunterricht.
Also, wo waren wir … Sternzeit 2021 …
Als ich die tiefe Stimme hinter mir hörte, hob ich sofort meinen Kopf, konnte aber die Blätter nicht rechtzeitig mit meiner Hand bedecken und zurück in die Mappe schieben. Dr. Ulrich hatte etwas gesehen.
– Versautes Zeug, lachte er.
– Nein, sagte ich. Nicht wirklich.
Dr. Ulrich war ein unerträgliches Lesewesen. Er war Jäger undunterhielt die Schüler gerne, wie er sagte, mit Geschichten aus dem aufregenden Leben mit Büchse. Außerdem ließ er andauernd seine Materialien im Hörsaal liegen. Wahrscheinlich bestanden seine Biologietests aus Fragen über das korrekte Ausweiden eines Hirsches oder die bevorzugte Herstellerfirma von in Tarnfarben gemusterten Ferngläsern.
Immer, wenn ich ihn sah, entwickelte ich die Fantasie, ihn irgendwo anzubinden und dann auf ihn zu schießen. Zuerst mit Sportpfeilen, dann mit Handfeuerwaffen, am Ende mit einer altmodischen Arkebuse, mit der auch die Dodos auf der Insel
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