Indigo (German Edition)
eng aneinander (der glänzende Film aus Hautpflegecreme auf Max’ Oberkörper, Roberts Hand, die sich danach ausstreckte …) und gebaren so wieder neue Lebewesen, und über die Jahre wanderten sie von einem Haus zum anderen, Retortenbabys aller Heizkörper-außer-Betrieb, und sie bildeten ein gewaltiges lauschendes Heer in den Wänden, pilzartige Kolonien, die alles aufnahmen, was im Leben, in den Häusern und Räumen der Menschen gesprochen wurde.
Wer hatte wohl die Schreie des gehäuteten Mannes gehört? Und wofür hatte er sie gehalten? Robert machte die Augen auf und suchte die Zeitung. Er wollte nachsehen, ob es in der Zwischenzeit andere, informativere Artikel über den Fall gab.
Im Herbst war die Unruhe immer am schlimmsten gewesen. Robert zog seine Hose an und ging in die Küche, um ein paar Karateschläge in die Luft zu machen. Bruce Lee, dachte er. Der konnte seine ganze Körperenergie, sein Chi, auf einen Punkt in seiner Hand konzentrieren, und dann brauchte er dich nur sanft damit zu berühren, und dein Herz blieb stehen. Das hätte er schon damals gut gebrauchen können, in der Helianau, wenn es kalt wurde. Einerseits, um nicht ständig zu frieren, andererseits, um beim Zonenspiel zumindest hin und wieder zu gewinnen.
Diese lächerliche, aber gut, jaja, auch ziemlich unterhaltsame Steh-Orgie und das Gefühl der Zonenfühler, die an die anderen stießen, so wie die Körper der Heizrohr-Wesen in ihren winzigen Urzeittümpeln im Gemäuer, das war schon was … Während man ihnen zusah, spielten sie es natürlich immer langsam und schachfigurenartig, aber wenn man sie allein ließ, ging es wild zu. ArnoGolch war immer der Erste, der die Ordnung durchbrach, er langweilte sich immer sehr schnell. Mein Gott, der Arno, Head of Conception bei PETROPA, Ölfeldererschließung, Pionierarbeit, John Franklin. Oder Sven Hedin, scheiß drauf, schwarzglänzend verschmiert wie die Pinguine und Eisvögel im Südatlantik. Schon damals. Immer der Erste, der durchrannte.
Robert erinnerte sich, dass der Erste, der in die geordnete Menge platzte, einen anderen Schüler packte und mit sich fortschleppte, Ferenz genannt wurde. Max hatte immer gestenreich (mit beiden Händen Wellen eines Oszillographen imitierend) behauptet, das Wort komme von Interferenz. Der Ferenz kam immer unerwartet, das war der Sinn der Sache und … ja, genau, wenn er seinen unmittelbaren Nachbarn ergreifen und mit sich fortzerren konnte, dann waren das hundert Punkte oder was weiß ich, jedenfalls sehr viele Punkte. Der herbstliche Institutsgarten bildete ein Gitter mit finiten Elementen, und dann fuhr dieses Störsignal mitten hinein, so wie die Wellen, die an der Fassade des World Trade Center aufbrandeten, nachdem das Flugzeug hineingeflogen war, dieses Aufbäumen der unbelebten Glasfront, das Bersten, Seufzen … er hatte es in einer Dokumentation als computeranimiertes Modell gesehen.
Robert war nie der Ferenz gewesen. Zu träge, zu langsam, generell zu leichte Beute. Wer hätte gedacht, dass in den zwölf Jahren, die seit der Matura vergangen waren, die Welt noch immer nicht untergegangen war. Aber wir arbeiten dran, dachte er, als er am iBall im Vorzimmer vorüberging. Der iBall hatte sein Lid geschlossen und hob es auch nicht, als Robert an ihm vorbeischlich.
Er fand die Zeitung im Bücherregal. Dort lag sie oft, unbemerkt und beinahe unsichtbar. Man erkannte sie an einem blassen Schatten, den sie auf die Wand hinter den Büchern warf. Er nahm die Zeitung und startete die Artikelsuche. Seine Suchbegriffe waren: setz clemens haut abgezogen mann hunde.
Die Einträge waren mehr oder weniger Kopien des Artikelsüber den Freispruch. Nur die Fotos des inzwischen neununddreißig Jahre alten Mathematiklehrers waren unterschiedlich. Auf manchen sah er tatsächlich so aus, wie ihn Robert in Erinnerung hatte. Ein Gesicht, das ohne die Augenbrauen nichts gewesen wäre. Müde Augen. Dünnrandige Brille. Ein seltsam vorstehender Adamsapfel. Schiefe Schneidezähne. Geheimratsecken. Kugelrunder Welpenbauch unter einer gemusterten Weste.
In einem Artikel wurde erwähnt, dass die Familie des Opfers angekündigt hatte, das Urteil mit allen zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln anzufechten. Das Opfer selbst war zum Zeitpunkt seines Todes vor zwei Jahren fünfundvierzig Jahre alt gewesen. Der Mann hinterließ zwei Töchter. Sein Bauernhof, auf dem er die Hunde gehalten hatte, war verkauft worden. Sein Nachname wurde nirgends erwähnt. Immer hieß
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