Indigo (German Edition)
es: Franz F., geboren in Cluj (Klausenburg), Rumänien. Töchter bereits in Österreich geboren, Hundezüchtung zuerst nur Hobby, später hauptberuflich – verdammt, komm endlich zur Sache. Aber der Artikel endete, ohne dass das grausame Verbrechen überhaupt erwähnt wurde.
Robert entließ die Zeitung und setzte sich an seinen Schreibtisch. Interf… Ferenz-Spiel, im Herbst … Seltsame, formlose Gedanken. Max. Was ist mit ihm passiert? Und der Mann, der ihn angesprochen hatte, er hatte gesagt, dass … welches Wort hatte er verwendet? Vorbild, nein Mentor, genau … Haut abgezogen … Max Schaufler … Mentor … Klausenberg …burg …
Er versuchte sich vorzustellen, einem schreienden, zappelnden Mann die Haut abzuziehen. Am besten dem schulterlosen, eiförmigen Menschen im Bankfoyer. Wie lange dauerte es, bis der Mann in Ohnmacht fiel? Und wie war das mit dem Blutverlust? Und wo fing man an? An welchen Punkten musste der Körper fixiert werden und mit welchen Hilfsmitteln? Geschah es vielleicht unter Vollnarkose?
Und so ein Typ hat mich unterrichtet.
Okay, okay, er ist freigesprochen worden und alles, aber trotzdem. Irgendjemand, der jetzt da draußen herumlief, hatte den Mann auf jeden Fall gehäutet. Diesen rumänischstämmigen Typen, der seine Hunde in einem Kellerverlies, oder was war das nochmal gewesen …? Robert schaute sich im Zimmer nach der Zeitung um, aber sie trieb sich wahrscheinlich auf dem Balkon herum, aus irgendeinem Grund mochte sie Sonnenlicht, nichtsnutziges kleines, federleichtes Ding ohne Erinnerung.
Kellerverlies, das Wort stammte möglicherweise aus einer anderen Erinnerung. Zu Hause in Raaba hatte es doch dieses komische Vieh gegeben … Das heißt, nicht bei seinen Eltern, sondern beim Nachbarn im Keller. Ein Hahn. Den Schrei dieses Hahns konnte man das ganze Jahr über hören, jeden Tag um eine winzige Zeiteinheit nach vorne verschoben. Der Hahn wurde in einem Keller gehalten und verfügte, soweit er das hatte feststellen können, über keinerlei Begriff von Tageslicht. Natürlich war da die innere Uhr, die ihm die Natur mitgegeben hatte. Sie sagte ihm, wann die ersten für ihn unsichtbaren Strahlen der Sonne draußen über die Dächer fielen, aber aus irgendeinem Grund war diese innere Uhr nicht ganz richtig eingestellt, vielleicht stammten die Gene, die für ihre Steuerung zuständig waren, noch aus einem anderen Jahrtausend, als die Tage auf der Erde noch einige Sekunden länger dauerten, weil der Planet noch nicht den starken, die Neigung der Erdachse beeinflussenden Beben ausgesetzt gewesen war. Der Hahn ging sozusagen vor. Was aber nichts daran änderte, dass man ihn immer hören konnte, keinen Tag ließ er aus; nicht einmal im tiefsten Winter, wenn es draußen kaum je richtig Tag wurde, musste irgendjemand aus der Umgebung auf sein Geschrei am frühen Morgen verzichten. Selbst im düsteren Winterlicht, das so viele Leute in den Vorstädten in die Melancholie trieb und ihren Abscheu vor der eigenen Familie weckte, diese besondere Stimmung, wenn einen nichts mehr mit dem eigenen Planeten verband, selbst in den blauen Stunden klang der Schrei des im Keller gehaltenen Hahnes wie immer, genau wie im Sommer. Er gab den Menschen in seiner Straße einen gewissen Halt. Manchen ging er natürlich auch auf die Nerven. Die wünschten sich den Hahn am liebsten tot und erlöst.
– Kann ich ihn sehen?, hatte Robert seine Mutter immer gefragt.
Erst zwei Tage zu Hause, und schon hatte ihn wieder der alte Käfer gebissen: das Bedürfnis, das zugrunde gerichtete Geschöpf zu sehen. Seinen Zeichenblock musste er unbedingt einstecken, aber in einem lichtlosen Keller würde er ohnehin nicht viel zustande bringen. Wenn er ihn nicht zu Gesicht bekam, würde er wahrscheinlich einen Igel quälen oder Fliegen einfangen und langsam in gebündeltem Sonnenlicht zergehen lassen müssen …
– Was? Wie soll das funktionieren?
Die Stimme seiner Mutter war selbst in der Erinnerung unangenehm laut. Er konnte sie nicht leiser stellen.
– Er ist doch nicht unsichtbar, oder?, sagte Robert und bemerkte, dass er anfing, schneller zu reden, als es einer normalen Kommunikation zuträglich war.
– Nein, das nicht, aber … Er gehört mir doch nicht. Wie soll ich …
– Ich würde ihn wirklich gern sehen.
– Ja, aber …
– Mama.
– Schau mich doch nicht so an. Ich … Ach, mein Kopf, warte, ich werde nur kurz …
– Ach, komm, das ist doch unglaubwürdig!
Robert
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