Indigo (German Edition)
große Ruhe aus, die mich fast um den Verstand brachte. Ich saß in dem mindestens vier Meter hohen Wohnzimmer der Familie Tätzel, dem zentralen Raum ihrer blassblauen Villa in Raaba.
Raaba ist nicht viel mehr als ein an der Südseite der Stadt Graz festhängendes Dorf, mit ihr verschmolzen wie das Männchen des Anglerfisches mit dem um vieles größeren Weibchen. Eine lange Straße, links und rechts Firmenparkplätze mit Fahnenstangen, das war der erste Eindruck, den ich von dem Ort bekam.
Ich hatte mich gefragt, ob es ratsam sei, so bald nach meinem Besuch bei Frau Stennitzer, der mich noch innerlich beschäftigte, bei der Familie Tätzel aufzukreuzen. Julia meinte Nein. Ich gingtrotzdem hin. Nach meiner Rückkehr aus Gillingen war ich in einer Art Erstarrung zu Hause gesessen und hatte zu verstehen versucht, was passiert war. Hin und wieder fiel ich in einen fiebrigen Schlaf und träumte von einem Schaf mit einer großen, grauen menschlichen Maske und einem Partyhut. Den Partyhut hatte ich an dem Tag gesehen, als ich Robert zur Telefonkabine begleitet hatte. Mein letzter Tag im Institut. Die Institutskrankenschwester. Bei dem kurzen Gerangel mit Dr. Rudolph im Hof hatte ich mir keine nennenswerten Verletzungen zugezogen – abgesehen vom blauen Auge, ein Glückstreffer dieses dicken, mit seinen kurzen Armen fuchtelnden Mannes. Der Chauffeur war es gewesen, der uns schließlich auseinanderzerrte. Ich hatte dem Direktor einen Schlag in den Bauch versetzt, und er krümmte sich und schien zu warten, ob er sich übergeben musste, während der Chauffeur ihm eine Hand auf den Rücken legte. Aber dann schluckte er schwer und sagte leise, dass ich unverzüglich aus dem Institut und von dem Grundstück verschwinden solle, oder –
– Oder was? Stecken Sie mich in ein Kostüm und lassen mich wegbringen?
Dr. Rudolph zeigte keine Reaktion. Aber der Chauffeur schien zu erschrecken. Er nahm seine Mütze ab und stemmte eine Hand in die Hüfte. Ich zeigte ihm den Mittelfinger. Er machte einen Schritt auf mich zu. Dr. Rudolph hielt ihn zurück – Schüler standen im Hof, die uns beobachteten. Wie Zombies in einem Horrorfilm kamen sie langsam näher, aber dann blieben sie stehen und verteilten sich.
Einige Zeit später saß ich mit zitternden Händen im Zugabteil und versuchte, Julia zu erreichen, aber sie ging nicht ran. Ich warf das Handy durchs Abteil und sammelte hinterher die Teile reumütig ein und baute es wieder zusammen. Und das alles nur wegen ein paar Fragen. Partyhut. Verkleidungen. Relokationen. Ich war ins Stammeln geraten, und es musste offensichtlich gewesen sein, wie wenig ich über die Angelegenheit wusste.
Darauf die ernste Schnauzbartstimme von Dr. Rudolph: Ichsei zu ungeduldig, ich hinge noch alten Werten an. Dabei gelte es, sich den Bedürfnissen der Schüler anzupassen und davon abzusehen, die eigenen Vorstellungen von Nähe, Tagesablauf und so weiter auf sie zu übertragen. Zur Illustration seines Standpunktes erzählte Dr. Rudolph mir eine kleine Geschichte. Er habe gelesen, sagte er, dass in einer sowjetischen Affenforschungsstation nahe der abchasischen Stadt Suchumi in den Fünfzigerjahren jeden Morgen eine Holzkonstruktion mit einem in Kreuzigungshaltung angebundenen Rhesusäffchen in die Sonne geschoben worden sei. Der Sinn dieser Installation sei ein doppelter gewesen, so Dr. Rudolph, einerseits eine Verspottung des in der abchasischen Landbevölkerung damals immer noch alles beherrschenden christlichen Glaubens, der den sowjetischen Machthabern ein Dorn im Auge gewesen sei und den sie mittels der grotesken Affen-Ikone durch eine Art Schocktherapie auszutreiben versuchten, andererseits sei es auch eine Demonstration der neuen Zeit und ihrer medizinisch-technischen Möglichkeiten gewesen, denn: Dem Affen fehlte die Kopfhaut, und aus seinem blanken Schädelknochen ragten Elektroden an Drähten. Und nun der missglückte Paradigmenwechsel, sagte Dr. Rudolph, die Besucher des zur Station gehörenden Zoos seien, so habe es ein Beobachter beschrieben, an dem Affengestell vorbeigegangen und hätten sich verstohlen und hastig bekreuzigt, die ganze Zeit über, Herr Setz, hören Sie zu?
– Okay, das machst du doch mit Absicht, oder?
– Mit Absicht? Herr Setz, ich weiß nicht, was Sie meinen. Und ich glaube auch nicht, dass wir per Du –
Der Rest war Gerangel.
In Roberts Zimmer durften sich Besucher inzwischen sechs Minuten aufhalten. Seit er das Institut verlassen hatte,
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