Indigo (German Edition)
vergrößerte sich sein Intervall stetig, und sein Einzugsgebiet wurde kleiner.
– Sechs Minuten, sagte ich anerkennend.
Trotz seiner fünfzehn Jahre wirkte er erstaunlich erwachsen. Aber nicht alle Teile seines Körpers hatten den letzten Wachstumsschub, der wohl erst vor Kurzem erfolgt war, mit gleicher Begeisterung mitgemacht. Ein Teil der Schulterpartie wartete auf den Anschluss, auch die Schädelknochen hielten sich noch etwas zurück.
– Ich halte es natürlich länger aus, sagte Frau Tätzel. Und zum Regenerieren brauche ich inzwischen auch nur mehr sehr kurz.
– Morgen, Herr Professor, hatte Robert gesagt.
Während ich in seinem Zimmer stand, hielt ich Ausschau nach dem Partyhut. Aber er war nicht zu sehen. Dafür entdeckte ich ein beunruhigendes Poster an der Wand, das einen in einer Raumkapsel fotografierten Hund zeigte. Robert und ich wechselten ein paar Worte, dann ging ich zurück ins Wohnzimmer.
– Der Tee ist ausgezeichnet, Frau Tätzel.
– Freut mich.
– Und es macht Ihnen wirklich nichts aus, wenn ich ein wenig mitschreibe? Es ist nur für mich, ich kann mich so einfach besser konzentrieren.
Ich hielt mein Notizbuch in die Höhe.
– Nur zu.
– Ich finde es sehr interessant, Frau Tätzel, dass Sie Robert wieder zu sich nach Hause genommen haben. Ich war vor Kurzem in Gillingen, bei einer Frau, die ihr Kind immer bei sich zu Hause –
– Aha, ja.
Frau Tätzel schlug die Beine übereinander.
– Und natürlich möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie so freundlich waren, mich zu empfangen. Ich bin mir sicher, dass Dr. Rudolph –
Frau Tätzel hob die Hand:
– Nein, nein, Herr Setz. Er hat nichts über Ihren Weggang gesagt.
Herr Rauber schüttelte ebenfalls den Kopf.
– Ich wollte Ihnen trotzdem sagen, dass es sehr freundlich von Ihnen ist. Ich glaube, es geht das Gerücht um, ich sei Alkoholiker. Zumindest hat man mir das gesagt. Ich möchte Ihnen nur versichern, dass das nicht zutrifft. Ich habe damals aus anderen Gründen das Institut verlassen.
– Wir urteilen nicht, Herr Setz.
– Das ist nett von Ihnen. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
– Bitte, sagte Herr Tätzel, der bisher geschwiegen hatte.
– Okay, sagte ich. Das klingt jetzt möglicherweise etwas eigenartig. Aber haben Sie zufällig einen Verwandten oder einen Bekannten namens Ferenc?
Frau Tätzel stellte die Teetasse schief auf den Unterteller und korrigierte die Stellung mit dem Daumen.
– Nein, sagte sie.
– Sicher nicht? Könnte auch falsch ausgesprochen sein.
Frau Tätzel lehnte sich zurück. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden, aber durch etwas sehr Ähnliches ersetzt worden.
– Entschuldigung, ich hab vergessen, das Handy abzuschalten, sagte sie.
– Schon in Ordnung, sagte ich. Lassen Sie’s ruhig –
Aber sie hatte es schon aus ihrer Hosentasche geholt und tippte darauf herum, dann klappte sie es zusammen und sagte noch einmal:
– Entschuldigung.
– Wirklich kein Problem. Wissen Sie, es sind ein paar seltsame Dinge vorgefallen, während meiner Zeit im Institut.
– Das geht allen so am Anfang, sagte Frau Tätzel.
Herr Tätzel machte ein leises:
– Mmmh.
Ich erzählte von den Kostümen und dem Zonenspiel im Hof.
– Das ist normal in dem Alter, sagte Frau Tätzel. Sie haben keine Kinder, nehm ich an, oder?
Ich schüttelte den Kopf.
– Da ändert sich viel, sagte Herr Tätzel. Wenn die Kinder da sind. Gell, Herbert.
– Jaaaa, machte Herbert Rauber und nickte.
– Kann ich mir vorstellen.
– Und bei einem Kind wie Robert, na ja, da ändert sich natürlich noch mehr, sagte Frau Tätzel. Erinnerst du dich noch an die erste Autofahrt mit ihm.
– Oh, hahaha!, machte Herr Tätzel.
Herr Rauber seufzte.
– Deswegen hab ich mir auch den da draußen gekauft, sagte Herr Tätzel. Den Pick-up. Wegen der Ladefläche. Die erste lange Autofahrt mit Robert, die werde ich nie vergessen. Damals war Robert krank, und wir sind mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Er hat dauernd geweint, und sein Bauch war steinhart. Da haben wir uns natürlich Sorgen gemacht.
Und er erzählte vom beginnenden leichten Schwindel, als er das schreiende Baby auf den Rücksitz gelegt hatte. Ganz zusammengekrümmt sei sein Sohn dagelegen und er habe aufgrund seiner Vorsicht, aufgrund seines Mitleids wertvolle Sekunden verloren.
– Denn ich wusste ja, mehr als ein paar Minuten hab ich nicht. Danach wird der Schwindel stärker werden, und vielleicht
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