Indigo (German Edition)
oder in einem Taucheranzug herumgehen. Man hat jede Ecke seines eigenen Kopfes schon einmal besucht, kennt alle Erfahrungen, zu denen man fähig ist, in- und auswendig.
Sie lachte und blickte wieder zu ihrem Mann, der immer noch mit seinem Handrücken beschäftigt war.
– Gell?, sagte sie.
Er schaute auf. Zuerst blickte er mich an, dann seine Frau.
– Mhm, machte er. Es war insgesamt eine sehr schwierige Zeit damals. Aber du hast das Autofahren am Ende doch erlernt. Sie sollten sie sehen, wie sie heute fährt.
– Manchmal beginnen sich depressive Menschen wehzutun. Mit einer Nadel oder einer aufgebogenen Büroklammer. Aber auch das ist, wie man bald einsieht, zwecklos. Ob man blutet oder nicht, macht keinen nennenswerten Unterschied, aber –
Jetzt nahm Herr Tätzel ihre Hand, und sofort hörte sie auf zu sprechen und schien ungeheuer erleichtert.
Ich hatte aufmerksam mitgeschrieben und blätterte noch einmal die letzten Seiten im Notizbuch durch. Es fiel mir auf, dass meine Schrift so gut wie unleserlich geworden war. Diese Tendenz hatte sie zwar immer schon gehabt, aber das hier war wirklich schlimm. Auf den drei oder vier Seiten, die ich während der letzten halben Stunde vollgeschrieben hatte, befanden sich nur kleine sinnlose Strichwolken, als hätte jemand im Dunkel kopfüber von einem Ast hängend versucht, Kanji-Schriftzeichen mit einem Stift zwischen den Zähnen zu malen. Das war alles unbrauchbar, das konnte ich wegwerfen …
– Entschuldigung, sagte ich, ich glaube, ich hab einen Fehler gemacht, ich …
Mir war schwindlig geworden. Außerdem bekam ich schlecht Luft, was wahrscheinlich an meiner zusammengefalteten Sitzposition lag. Ich stand von dem Fauteuil auf. Mein linker Fuß war taub.
– Ist alles in Ordnung mit Ihnen?
Angeblich habe ich auf diese Frage geantwortet: Ich hab meine Schuhe verkehrt herum angezogen. Aber daran erinnere ich mich nicht.
– Ich glaube, ich werde dann gehen, sagte ich. Ich bin etwas …
Als ich das sagte, verließen Frau Tätzel, ihr Mann und ihr Vater den Raum. Ich blieb allein zurück, schwankend. Nach kurzer Zeit kam Herr Tätzel zurück und bedeutete mir, ihm zu folgen. Er wolle mir, bevor ich gehe, noch etwas zeigen, etwas wirklich Schönes.
Wir gingen hinaus, in den vorderen Teil des gepflegten Gartens. Die frische Luft tat mir gut, und der Schwindel verflog. Von hier aus konnte man über einige Nachbargärten direkt auf den Parkplatz einer großen Versicherungsgesellschaft sehen, deren silbernes, in Form eines Fernglases erbautes Zwillingsfirmengebäude von Fahnenstangen umstanden war, von denen sonntäglich erschlaffte Stoffbahnen hingen.
Herr Tätzel deutete auf das Familienauto, den Pick-up, mit dem er seit drei Jahren nicht mehr gefahren war.
– Ist er nicht schön?, fragte er.
– Äh, ja, sagte ich und trat näher.
– Die Ladefläche, sagte er.
Er zog eine Fernbedienung aus der Tasche. Seine arthritischen Finger hatten Mühe, sie zu aktivieren.
– Sie, sagte er mit einem Seitwärtsnicken in Richtung des Hauses, sie weiß nicht, dass ich die hier noch habe.
Er drückte auf den Knopf, und das Verdeck des Wagens hob sich. Langsam faltete sich das Dach in eine angenehm weiche, auf das Befinden der eigenen Ellbogen- und Kniegelenke wohltuend wirkende Ziehharmonikaform. Schließlich klappte es ganz nach hinten, hinunter auf die Ladefläche des Pick-up. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
– Wunderschön, oder?, sagte Herr Tätzel. Möchten Sie mal reinschauen?
– Gern, sagte ich mit einem Achselzucken.
Er öffnete mir die Fahrertür und ließ mich hinter dem Lenkrad Platz nehmen. Dann machte er die hintere Tür auf, setzte sich auf die Rückbank und betätigte einen weiteren Knopf an der Fernbedienung, der die straßenseitige Hofpforte aufgehen ließ. Langsam und feierlich strebten die beiden Blechteile des Tores auseinander, eine einladende Geste.
– Der Schlüssel steckt, sagte Herr Tätzel. Ist es nicht wunderschön?
– Ja, nickte ich in den Rückspiegel.
Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck angenommen. Er blickte mehrere Male zum Haus zurück.
– Sie haben einen Führerschein, oder?, sagte er.
– Ja schon, sagte ich, aber das ist eine komische Sache. Ich habe damals zwar die Fahrprüfung bestanden, aber das war vor sechs Jahren, und seither –
– Bitte, sagte er.
– Was?
– Bitte, Sie müssen nur rausfahren und dann nach rechts. Ich sage Ihnen dann, wie’s weitergeht,
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