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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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werde ich mich übergeben müssen. Ich hab die erste Schwindelattacke unterschätzt, weil ich … Haha … Ich bin Schlangenlinien gefahren, als ich aus der Garage draußen war, weißt du noch?
    Frau Tätzel lächelte und nickte, ja, sie könne sich noch sehr gut erinnern.
    – Die Lichter sind nach einer Weile komisch geworden, das heißt, sie haben komisch ausgesehen.
    – Die Lichter?
    – Na ja, die Lichter der anderen Autos und die Straßenlaternen und … Haben Sie schon mal Oliver Sacks gelesen?
    – Ja.
    – Genauso war’s.
    – Könnten Sie es vielleicht noch ein bisschen genauer beschreiben?, fragte ich.
    – Na ja, schuld daran ist natürlich die schlechte Durchblutungdes Gehirns, nehme ich zumindest an. Die verursacht auch die rasenden Kopfschmerzen und die tauben Stellen im Gesicht. Das ist ein ganz schrecklicher Zustand, wissen Sie? Es wird einem kalt und heiß zugleich, man klappert mit den Zähnen und möchte sich gleichzeitig die Kleider vom Leib reißen.
    – Hatten Sie dieses Gefühl, gleich nachdem Sie Richtung Krankenhaus losgefahren waren?
    – Nein, ich habe genau gewusst, du musst die ersten fünf bis sechs Minuten nutzen, also hab ich das Gaspedal bis zum Boden durchgetreten.
    Er lachte wieder.
    – Beherzt, sagte Frau Tätzel plötzlich. Anders kann man das nicht nennen. Ein beherztes Eingreifen.
    Leider könne er heute aufgrund seiner Polyarthritis nicht mehr Auto fahren, meinte Herr Tätzel. Also habe es seine Frau erlernen müssen. Überhaupt habe sie nach der Überwindung der schlimmsten Phase ihres Lebens die Ruder in beide Hände genommen, sozusagen. Die Ruder, wiederholte Herr Tätzel noch einmal und formte mit seinen Armen eine Art Dinosaurierschnabel vor seinem Gesicht.
    Seine Frau lachte und klopfte ihm zweimal aufs Knie.
    Anders als in den restlichen Räumen des Hauses hing im Wohnzimmer nur eine einzelne, sehr helle Glühbirne von der Decke, deren Licht in unregelmäßigen Abständen etwas flimmerte. Die Frequenz war hoch genug, so dass man das Flimmern nur bemerkte, wenn man sich konzentrierte.
    – Darf ich fragen, was Sie mit schlimmste Phase ihres Leben s meinen?
    – Ich war lang depressiv, sagte Frau Tätzel.
    Ihr Vater legte seine große, menschenfreundliche Tatze auf ihre Schulter und drückte einmal kurz zu.
    – Allein die Vorstellung, dass es Abend wird, hat mich damals total fertiggemacht. Jetzt ist es hell, aber später wird es dunkel werden. Jetzt sind alle Geschäfte geöffnet, aber später werden sie geschlossen sein, und ich kann nichts mehr kaufen, werde Hunger haben und vielleicht sogar Durst, denn das Wasser aus der Wasserleitung trinke ich nicht, da mir von dem Kalkgeschmack schlecht wird. Solche Gedanken, den ganzen Tag.
    – Und war das … wegen …?
    Ich merkte, dass ich in ein Fettnäpfchen getreten war.
    – Nein, sagte sie. Nein. Das hatte damit nichts zu tun. Die sogenannte Depression hat, entgegen der landläufigen Meinung, überhaupt nichts mit Trauer, Überarbeitetsein, Niedergeschlagenheit oder Enttäuschung zu tun. Ganz im Gegenteil. Traurigkeit wäre in depressiven Lebensabschnitten sogar wünschenswert. Die Rettung. Ich weiß nicht, ob Sie damit etwas anfangen können, aber Depression bedeutet in erster Linie vollkommene Interesselosigkeit. Alles erscheint langweilig und verbraucht, und der Zustand der Neugier liegt so weit zurück wie … na ja, weiter als die eigene Geburt, man kann sich überhaupt nicht daran erinnern, dass man sich je für irgendwas interessiert hat …
    Sie blickte zu ihrem Mann, der aber mit einem Haar auf seinem Handrücken spielte und ihr keinen Hinweis gab, ob sie weitersprechen solle.
    – Natürlich, fuhr sie fort, können auch depressive Menschen den Alltag hinter sich bringen und mit anderen Menschen kommunizieren, aber … aber es ist ein Drahtseilakt, und er kann jederzeit zu Ende sein. Irgendwann wacht man auf und stellt fest, dass es keinen Sinn mehr hat, sich zu bewegen, dass es keinen Sinn mehr hat, etwas zu essen oder zu trinken, und dass es keinen Sinn mehr hat, sich um seine eigenen Kinder zu kümmern. Es schnürt dir die Kehle zu, und du kannst nur mehr mit ganz leiser Stimme sprechen. Ich hab dann meinen Mitmenschen immer versucht klarzumachen, was für eine ungeheure Kraftanstrengung es für mich bedeutet, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen und einigermaßen zusammenhängend zu reden. Die meisten haben das nicht eingesehen. Es ist so, als müsste man mit zentnerschweren Kleidern

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