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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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klingst du, wenn du lügst?
    – Wie, das weißt du gar nicht?
    – Nein.
    – Männer, sagte Julia und schüttelte den Kopf.
    Das Jahr 2007 hatte auch noch mit anderen Irritationen begonnen. Fast immer spielten dabei eigenartige Fleckeneine Rolle. An der Hausmauer neben unserem Balkon war ein riesiges pilzartiges Mal entstanden, das sich weder vom Regen noch von Wasser, das wir mit dem Gartenschlauch daraufspritzten, wegwaschen ließ. Es hatte eine rötliche Farbe und sonderte einen unangenehmen Geruch ab, der an alte Kartoffelkeller erinnerte. Dieser Geruch drang oft bis zu uns in die Wohnung, vor allem die Küche, wo ich gern arbeitete, also verließ ich öfter das Haus und hielt mich an verschiedenen Plätzen auf, an denen ich nicht gestört oder angesprochen wurde.
    An einem Tag im März saß ich in einem kleinen Café in der Nähe des großen Fleischereibetriebs, der unseren Bezirk beherrscht. Es war schon früher Abend, und ich hatte nichts zu tun, außer geduldig abzuwarten, bis ein ziemlich großer Teefleck auf meiner Hose getrocknet war. Wäre ich gleich aufgestanden, hätte es so ausgesehen, als wäre mir ein peinliches Malheur passiert. Nach einiger Zeit setzte sich ein Mann an einen der anderen Tische. An seiner Weste hing ein Monokel, vielleicht war es auch eine Taschenuhr. Er blickte mich an. Ich wich zuerst seinem Blick aus, dann erwiderte ich ihn: Was ist? Der Mann nickte und zog eine Ausgabe des National Geographic aus der Tasche.
    Es war eindeutig das Heft, in dem der zweite Teil meines Artikels In der Zone erschienen war. Er blätterte und blätterte, schaute nun woanders hin, gähnte demonstrativ und blätterte wieder um, tat erstaunt, als entdeckte er etwas Ungewöhnliches. Seine Haltung veränderte sich, und sein Gesichtsausdruck wurde ernst und konzentriert. Dann begann er, einige Seiten aus dem Heft zu reißen. Ich stand auf und wollte auf ihn zugehen. Doch noch ehe ich den ersten Schritt machen konnte, war er schon aus dem Lokal gelaufen. Ich folgte ihm, aber er war verschwunden. Mehrere Minuten stand ich ratlos und eingeschüchtert aufder Straße unter einer trotz der fortgeschrittenen Stunde dunkel gebliebenen Laterne.
    Irritiert kehrte ich nach Hause zurück und legte mich sofort ins Bett, aber ich konnte lange nicht einschlafen. Irgendwann trieb ich in einer Art Kanu, das zur Hälfte ein Balkon war, davon. In der Nacht besuchte mich ein weißes Tier, das einen ebenso großen wie traurig und gedankenverloren wirkenden Knochenkopf besaß, den es mit Mühe, aber, wie mir schien, ohne besondere Eile bis vor mein Bett schleppte: einen jener gigantischen ornamentalen Köpfe aus Stein, mit den zusammengekniffenen Augen eines Weinenden, einer großen geometrischen Nase und einem breitlippigen Mund, aus dem, wie als stilles Eingeständnis großer Hilflosigkeit oder Schuld, ein einzelner grobgefurchter Schneidezahn hervorstand. Das Tier blieb vor meinem Bett stehen und begann, seinen Kopf an den knarrenden Metallpfosten zu wetzen. Es strengte sich dabei sehr an, und bald gelang es ihm, den Kopf von seinem Rumpf zu trennen. Mit einem befriedigten Schnaufen fiel der Kopf auf den Boden. Was vom Tier übrig blieb, war eine weiße Fellkugel, ohne Gliedmaßen oder erkennbare Ein- und Ausgänge, ein weißer, dichtbehaarter Sack, der sich in rhythmischen Kontraktionen hin und her bewegte, als atmete er immer noch. Ich berührte ihn mit meiner Fußspitze – da fing er plötzlich markerschütternd an zu schreien und zu jammern, doch schon nach wenigen Minuten wurde er wieder still, und die beiden nun ohne Zweifel dem Zerfall überantworteten Teile lagen leblos vor meinem Bett: der Steinkopf und der Fellsack, beide erstarrt in einer Art feierlicher Bedeutungslosigkeit. Aus Angst, das Schauspiel könnte sich, wenn ich ihm noch länger meine Aufmerksamkeit schenkte,in einem fort wiederholen, zog ich mir die Decke über den Kopf. Als ich sie etwa eine Minute später in dumpfer Atemnot wieder von meinem Gesicht riss,lag ich in vollkommener Dunkelheit. Ich tastete um mich und bekam einen der Plastikknöpfe zu fassen, die an einer Seite der Bettdecke eine Reihe bildeten. Der Knopf war angenehm kühl, und wie im Fall eines fremden Ohrläppchens, das man durch eine glückliche Verkettung von Umständen für die Dauer eines seligen Augenblicks zu fassen bekommt, war es sehr beruhigend, ihn zu berühren. Um mich zu vergewissern, dass alles, zumindest in groben Zügen, noch so war, wie ich es kannte, bewegte ich

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