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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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allein gestellt, wenn sie Dinge stahlen, wurden sie nicht bestraft und selbst dann ignoriert, wenn sie verzweifelt darum baten, das Spiel abzubrechen. Sie waren ritualistisch unsichtbar, wie Cohn es nennt. Diese Riedln oder Riedser genannten Kinder durften außerdem während dieser Woche von niemandem ins Haus gelassen werden und mussten sich Nahrung und Unterkunft selbst organisieren (meist wurden allerdings von den Eltern und näheren Verwandten an einer vorher vereinbarten Stelle kleine Pakete mit Notproviant hinterlegt). Dieser Brauch galt nicht als Bestrafung, denn nach der in vollkommener sozialer Isolation verbrachten Woche wurden die Kinder in einer feierlichen Zeremonie wieder in die dörfliche Gemeinschaft aufgenommen und mit reichen Gaben belohnt.
    Während ich die Ausschnitte und Zettel in der rotkarierten Mappe durchblätterte und ordnete, hörte ich mir auf CD einige der 555 Sonaten von Scarlatti an, die in den Achtzigerjahren vom amerikanischen Virtuosen Scott Ross komplett eingespielt wurden, der das Cembalo so fein und majestätisch wie niemand sonst spielen konnte. Ein Triller war bei ihm nicht einfach nur ein schnelles Hin und Her zwischen zwei Noten, sondern konnte alles ausdrücken, das ängstliche Zittern eines eingeklemmten Gelenks, das drohende Rasseln einer Klapperschlange, das Grummeln im Baucheines hungrigen Menschen, das Flattern einer Fahne im Wind, das ungeduldige Pulsieren bestimmter Sterne am Nachthimmel.

TEIL IV
    If I were perfect, I would believe everything I hear.
    William T. Vollmann, The Rainbow Stories
    It seems that communication always tends to be in favor of the receiver. It gathers around him as moths gather around a flame.
    Charles A. Ferenc-Hollereith

1  Der Osterinselkopf
    [Grüne Mappe]
    Wie wunderbar ist die feierliche Leere, die die Wochen nach dem letzten Lebenszeichen eines anonymen Daueranrufers durchzieht: Er atmet jetzt wieder ganz für sich allein, ohne dass es jemand hört. Möglicherweise ist er gestorben, still und heimlich wie ein Insekt an einer Hausmauer, hat seine sechs Beinchen zusammengefaltet und ist erloschen. Es gibt sie nur mehr selten, diese Anrufer, die vor einem guten Jahrzehnt noch zu Tausenden aufgetreten sind. Heute dürften es in ganz Europa nur mehr eine Handvoll sein, die letzten, im Grunde kostbaren Vertreter ihrer Art, die sich noch hie und da von ihrer Schlafstelle erheben und sich auf allen vieren zum alten Wählscheibentelefon in der Ecke schleppen ...
    In den ersten Wochen des Jahres 2007 war ich so oft von dem Unbekannten angerufen worden, der nie etwas hatte sagen wollen, dass ich Anrufe nur mehr entgegennahm, wenn ich die Nummer kannte. Als ich einmal auf dem stummgeschalteten Handy Frau Stennitzers Namen leuchten sah, ging ich ran.
    – Hallo?
    – Herr Setz? Wie geht’s Ihnen? Hier ist Gudrun Stennitzer.
    – Guten Abend, Frau Stennitzer. Schön, Sie zu hören.
    – Ja, sagte sie. Schön. Schön, ich weiß nicht. Jedenfalls ist es freundlich von Ihnen, meinen Anruf als schön zu bezeichnen.
    – Ist etwas passiert?
    – Ich habe mir etwas ganz Albernes gedacht, sagte sie. Ich hab mir gedacht: Sie werden uns aber nicht untreu, Herr Setz, oder? Haha. Ich meine, weil Sie nicht mehr ans Telefon gehen. Es ist doch nicht so, dass Sie uns in schlechter Erinnerung haben, oder? Ich habe gehört, dass Sie nach Brüssel ...
    – Von wem haben Sie das gehört?
    – Weiß ich jetzt nicht mehr ... Wissen Sie, ich wollte nur, dass Sie wissen, dass Sie jederzeit bei uns willkommen sind. Da fährt die Eisenbahn drüber. Soll heißen: Unsere Gastfreundschaft bleibt auch weiterhin aufrecht, wissen Sie?
    Es entstand eine kurze Pause.
    – Vielen Dank, sagte ich.
    – Oh, keine Ursache, wirklich nicht, wissen Sie ... Das gehört eigentlich nicht hierher, aber Christoph hat erwähnt, dass er ... Er hat gesagt, er wünscht Ihnen alles Gute. Hat er gesagt, wirklich.
    – Oh, vielen Dank. Ich hoffe, meine Artikel haben ihm gefallen.
    – Ach, Sie sind viel zu bescheiden. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Sie sind immer so defensiv und ... na ja, das hab ich schon bei Ihrem Besuch gemerkt.
    – Ach so? Also, ja, ich bin vielleicht manchmal ein wenig defensiv, kann schon sein ...
    – Wir wollten Ihnen jedenfalls versichern, dass wir uns freuen, wenn Sie ... Ach, was soll ich noch sagen ...?
    Ich schwieg und wartete.
    – Alles ist so weit gut bei uns, ja, sagte Frau Stennitzer. Aber dafür haben wir jetzt ein neues Problem,

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