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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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verwirrende Brausen eines Kornfeldes zur Mittagszeit, was hätte er auch sonst malen sollen … Ich machte probeweise die Augen auf, und der Raum stand zwar etwas schief, aber vollkommen ruhig da. Ich blinzelte ein wenig und bewegte die Augäpfel hin und her. Nichts.
    Ich setzte mich auf. Dodo lag neben mir, nun zu einer friedlichen Katzenkugel zusammengerollt, ihr Kinn auf die Pfoten gebettet. Als sie merkte, dass ich sie ansah, öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Ich zwinkerte ihr zu. Sie zwinkerte höflich zurück. Dann legten wir uns wieder hin. Ich träumte davon, dass ich in Belgien war. Irgendwo auf dem Land, zwischen mehreren niedrigen, weißen Gebäuden. Hinter mir, in der Ferne, stand ein Reisebus, der mich hierhergebracht hatte. Und zu meinen Füßen lag ein Grab, nicht größer als ein Balkon-Gemüsebeet, verziert mit einem faustgroßen Stein. Es war das Grab jener Maus mit dem menschlichen Ohr auf dem Rücken. Endlich habe ich es gefunden, dachte ich im Traum und erwachte mit tränenverklebtem Gesicht.
    An der Wand neben meinem Bett hing ein Bild von Max Ernst, der Engel der Feuerstätte, dessen Anblick mich normalerweise immer glücklich machte, egal, wo mir das rätselhafte Wesen mit pferdeähnlichem Kopf begegnete, das unter ekstatischem Gelächter über eine Ebene tanzt. Jetzt konnte ich es nicht ansehen, da ich mir vorstellen musste, wie sich ein Kind im Institut dieses Kostüm anlegt und anschließend weggebracht wird.
    Am Nachmittag kam Julia von der Arbeit. Sie brachte den Geruch von Ratten, Heu und Federn mit. Sie setzte sich zu mir ans Bett und fragte mich, wie das Gespräch gelaufen sei. Da ich nicht antwortete, sondern nur den Kopf schüttelte, griff sie nach dem kleinen, violetten Plastikdinosaurier auf dem Nachttischchen und ließ ihn über meine Brust hüpfen.
    Als sie meine Verletzungen sah, erschrak sie.
    Später, als ich wieder aufstehen und herumgehen konnte, machten wir einen kurzen Spaziergang. Die Luft im ganzen Bezirk roch leicht verbrannt, aber nicht unangenehm. Möglicherweise fand irgendwo ein Grillfest statt.
    Ich beschrieb Julia einige interessante Graffiti, die sich weit oben an der Wand eines Hochhauses in der Nähe des Oeverseeparks befanden. Es gibt wenige Dinge in einer Stadt, die ästhetisch so befriedigend sind wie Graffiti an unerreichbaren Stellen. Das Auge braucht nur eine Sekunde, und schon sieht es die geflügelten Wesen vor sich, die dieses Werk hervorbringen, mit mehreren Armen ausgestattet, schwingen sie sich über die Bauelemente, glatt und in gefährlicher Schräglage, und der Blick des Betrachters rekonstruiert ihre an Marvel-Superhelden erinnernden Kletterkunststücke, die zum Erreichen all dieser wunderbaren unmöglichen Plätze notwendig sind: der Querverstrebungen der Stahlkonstruktion in der Mitte einer Brücke; des hervorspringenden Gebäudeteils, fern aller Balkone; des Inneren eines Tunnels, der vierundzwanzig Stunden am Tag befahren wird; oder der Außenwand von Fahrstühlen – ich erinnerte mich, vor Jahren einmal von einem solchen Fall gelesen zu haben. Im Zuge des Umbaus eines zweiundzwanzig Stockwerke hohen Gebäudes in Wien wurde der Fahrstuhlschacht verbreitert und die Kabine durch eine neue, größere ersetzt. Als die Arbeiter die alte entfernten, sahen sie, dass jeder Zentimeter der normalerweise an ihrem Stahlseil auf und ab schwebenden Metallbox außen mit Tags und gesprayten Liebesszenen bedeckt war. Es hieß, vor lauter Ratlosigkeit hätten die Arbeiter die alte Fahrstuhlkabine sofort entsorgen lassen.
    Julia bemerkte, dass ich langsamer redete als sonst.
    – Ich sehe nicht mehr klar, sagte ich. Es ist alles schwierig geworden.
    – Inwiefern?
    – Meine Stirn fühlt sich komisch an, sagte ich.
    Zu Hause setzte ich mich an den Schreibtisch und brachte ein wenig Ordnung in den Inhalt der rotkarierten Mappe. Ich las in Norman Cohns faszinierender Studie Apokalyptiker und Propheten im Mittelalter über verschiedene Kinderausschluss-Rituale, kopierte die entsprechenden Seiten aus dem Buch und legte sie in die Mappe. In Deutschland und Österreich war es auf dem Land bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein offenbar Brauch, zu Neujahr ein ausgewähltes Kinderpaar symbolisch zu verheiraten, erzählte Cohn, in ein weißes Pelzgewand zu stecken und danach für eine ganze Woche für unberührbar zu erklären. Niemand durfte ihnen antworten oder auf sie reagieren, wenn er ihnen auf der Straße begegnete, sie waren ganz auf sich

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