Indigosommer
die Küche kam, gestand mir Conrad, dass der Kühlschrank leer war. »Dad hat gesagt, ich soll einkaufen, aber ich hab’s vergessen. Lass uns ins »River’s Edge« gehen. Die haben guten Kaffee und ganz passable Pancakes.«
»Ich habe kein Geld bei mir«, sagte ich, einigermaßen überrascht über seinen Vorschlag.
Conrad beugte sich über mein Gesicht und küsste mich. »Du bist eingeladen.«
Vor ein paar Stunden war ich überzeugt gewesen, den großartigsten Augenblick meines Lebens zu erleben. Doch als ich mit Conrad aus dem Haus auf die Straße trat und er meine Hand nahm, hatte ich das Gefühl, dass das noch großartiger war. Conrad Howe zeigte sich ganz offen mit mir. Die Sonne brannte vom Himmel und Boone begleitete uns durch den Ort. Mir kam es vor, als würde ich über den Asphalt schweben, und ich musste mich gut bei Conrad festhalten, damit ich nicht davonflog, so glücklich war ich.
La Push hatte alle Trostlosigkeit verloren, jedenfalls schien mir das so. Wie immer waren kaum Leute auf der Straße, aber einigen begegneten wir und sie sahen uns hinterher. Conrad schien sie gar nicht zu bemerken. Er hielt meine Hand fest und ich ahnte, dass er versuchte, die Wirklichkeit auszusperren. Was das anging, passten wir gut zusammen.
Im Restaurant saßen zwei ältere Quileute an einem Tisch und eine weiße Frau mit zwei kleineren Kindern an einem anderen. Wir setzten uns an die Fensterfront mit Blick zum Fluss. Auf dem Weg hatte ich kurz darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn Tamra uns bedienen musste. Aber mir war klar, dass sie sich nicht blicken lassen würde, selbst wenn sie Dienst hatte.
Es war Valerie, die kam, um unsere Bestellung aufzunehmen.
»Hi Val«, sagte Conrad.
»Hi«, sagte sie und lächelte tatsächlich. Sie hatte ein schönes Lächeln und lustige braune Augen. Und sie himmelte Conrad an.
»Das ist Smilla.«
»Hi, Smilla. Was kann ich euch bringen?«
Sie war so unerwartet freundlich, dass es mir für einen Moment die Sprache verschlug.
»Kaffee«, sagte Conrad. »Und Pancakes mit Erdbeeren für mich.«
»Für mich auch«, sagte ich und gab ihr die Karte zurück. »Und einen Milchkaffee bitte.«
»Was ist mit ihren Haaren passiert?«, fragte ich leise, als Valerie in der Küche verschwand.
Conrad grinste amüsiert: »Sie wollte aussehen wie Cher und es ist schiefgegangen. Aber Valerie ist in Ordnung.«
Er erzählte mir, dass sie alle zusammen auf die Highschool in La Push gegangen waren. Justin, Milo, Tamra, Sassy, Valerie und er. Jetzt arbeiteten Tamra und Valerie als Bedienung im »River’s Edge«, Sassy war Zimmermädchen im »Ocean Park Resort«, Milo half seinem Vater auf dem Fischerboot und verdiente sich nebenbei etwas, indem er Gras verkaufte.
»Wo hat er das Marihuana her?«, fragte ich.
»Er baut es an, irgendwo im Küstenwald. Aber mein Vater hat neulich erst sein Feld entdeckt und es vernichten lassen.«
Deshalb hat Brandee keinen Nachschub mehr, dachte ich. »Er hat das Zeug auch an Brandee verkauft. Damals, in Forks.«
»Ja. Die Schaufensterpuppe war Milos beste Kundin. Aber nun sitzt er auf dem Trockenen.«
»Ich dachte, wir sind der letzte Dreck für ihn«, sagte ich. »Wieso tut er Brandee einen Gefallen?«
»Milo tut diesem Mädchen keinen Gefallen. Euch weißen Kids Drogen zu verkaufen, ist seine Art, Krieg zu führen. ›Sie machen sich selbst kaputt‹, sagt er und er verdient dabei.«
»Das ist abscheulich«, sagte ich.
Conrad zuckte mit den Achseln. »So ist Milo eben.«
»Und du?«, fragte ich. »Was ist mit dir?«
»Was soll mit mir sein?«
Valerie kam mit dem Kaffee und wir schwiegen, bis sie wieder gegangen war.
»Na, was machst du, wenn du nicht gerade weiße Mädchen zum Frühstück ausführst?«
Wieder hob Conrad die Schultern. »Kayad hüten, fischen gehen mit meinem Vater, lesen.« Er blickte aus dem Fenster, aber nach einer Weile sah er mich wieder an. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich eine Zulassung fürs College in Seattle hatte. Hauptfach Journalistik. Ich wollte das Gedächtnis unseres Volkes sein. Aber ich konnte einfach nicht gehen, nachdem er tot war. Mein Bruder wollte immer fort und nun hält er mich hier fest.«
Conrad erzählte mir, dass er begonnen hatte zu schreiben, weil er die Geschichten, die sein Großvater ihm und Justin erzählt hatte, bewahren wollte. »Als mein Vater die vollgeschriebenen Schulhefte entdeckte, kaufte er mir den Laptop. Nachdem Großvater Akil gestorben war, fing ich an, meine
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