Indigosommer
als Zwillinge bezeichnet, sondern als Tlokwali, als Wölfe, weil sie besondere Macht hatten.«
Ich schluckte. »Hat man dich und deinen Bruder auch so genannt? Tlokwali, Wölfe?«
»Ja. Wir fühlten uns stark und glaubten, dass wir alles erreichen konnten, wenn wir erst groß waren. Nur, dass unsere Vorstellungen von der Zukunft eben irgendwann nicht mehr dieselben waren.«
Jetzt bist du ein trauriger, ein einsamer Wolf, dachte ich und suchte nach seiner Hand, um meine Finger mit seinen zu ver schränken. »Du kannst alles erreichen, Conrad«, sagte ich. »Du kannst alles schaffen, auch ohne ihn.«
Conrad drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Seit mein Bruder tot ist, kann ich nicht mehr schlafen, Smilla.« Er erzählte mir von seinem Unterwassertraum und ein Schaudern ging durch meinen Körper. »Im Traum bin ich jede Nacht mit ihm da unten und versuche, ihn zu finden und zu retten. Aber ich kriege ihn nicht zu fassen, er entgleitet mir.« Conrad seufzte. »Ich hätte ihn einfach besser beschützen müssen.«
»Aber es ist doch nicht deine Schuld, dass er gestorben ist«, flüsterte ich.
»Und warum fühle ich mich dann schuldig?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil du lebst und er nicht.« Das musste eine schreckliche Bürde sein.
Conrad rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellenbogen. »Smilla«, sagte er, »es kommt mir so vor, als hätte ich das vergangene Jahr in einem schwarzen Loch verbracht. Nach dem Tod meines Bruders bin ich zu jemandem geworden, der ich nicht sein wollte. Ich wurde Milos Freund, ich wurde Tamras Geliebter und spielte den Vater für Kayad.« Unglücklich sah er mich an. »Ich bewege mich immer noch in seinem Schatten, verstehst du? Auf alles, was ich tue, was ich sehe, was ich berühre, fällt sein Schatten. Ich kann in keinen Spiegel mehr blicken, denn es ist er, der mich daraus anschaut.«
Nun wurde mir einiges klar. »Ist deshalb der Spiegel in deinem Bad verhängt?«
»Ja. Ich habe es nicht mehr ertragen.«
Ich umarmte und küsste ihn. »Er ist nicht hier«, sagte ich. »Hier sind nur du und ich. Nur du und ich.«
Stockend erzählte mir Conrad von einem Bruder, der unersättlich gewesen war. »Er wollte alles, was ich hatte und was ich begehrte, und wenn es noch so unbedeutend war. Und wenn er es schließlich besaß, interessierte es ihn nicht mehr. Ich wollte unbedingt einen Hund, also wünschte er sich auch einen. Unser Dad schenkte uns zwei Welpen, aber mein Bruder kümmerte sich nicht um Rowdy. Ich glaube, sogar Tamra reizte ihn nur, weil ich in sie verliebt war.«
Ich griff nach Conrads Hand und mein Blick fiel auf die tätowierten Kreuze auf seinem Handrücken. »Hatte er die auch?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Die habe ich mir selbst gemacht, als ich sieben war. Nur, um mich von ihm zu unterscheiden.«
»Und es war ihm egal? « »Nein. Er wollte diese Kreuze auch. « »Und wie hast du das verhindert? « »Ich habe ihm gesagt, wenn er sich tätowiert, würde ich mi r
die Hand abhacken.« »Du hast ihn gehasst«, flüsterte ich erschrocken. »Nein. Ich habe ihn geliebt. Und ich vermisse ihn.«
20. Kapitel
C onrad stand mit einem um die Hüften gewickelten Handtuch am Waschbecken. Der Spiegel war nicht mehr verhängt und ich sah darin, wie Conrad mit geschlossenen Augen Zähne putzte.
Ich betrachtete ihn. Die Schulterblätter, die sich unter seiner dunklen Haut bewegten, die gebogene Linie seines Rückgrats, die schweren Haare, die ihm lose über den Rücken hingen, und dachte, wie sehr er mir gefiel.
Er beugte sich unter den Wasserstrahl und spülte den Zahnpastaschaum aus seinem Mund. Ich ging zu ihm und schlang meine Arme um seine Hüften. Er drehte sich um und küsste mich, verteilte frischen Zahnpasta
-Atem in meinem Mund. Obwohl die Nacht kurz gewesen war, sah er ausgeruht aus.
»Na«, fragte ich, »wie hast du geschlafen?«
»Wie ein Stein.« Conrad lächelte und kraulte in meinen Haaren, als wäre ich ein kleines felliges Tier. »Willst du duschen?«
»Keine schlechte Idee«, sagte ich.
»Im Schrank sind Handtücher. Ich schau mal nach, ob ich was im Kühlschrank finde.«
Ich duschte und putzte meine Zähne mit Conrads Zahnbürste. Das zu tun, kam mir intimer vor als alles, was in der vergangenen Nacht in seinem Bett geschehen war. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, fuhr mit den Fingern ein paarmal durch meine Haare und lächelte.
»Happy Birthday, Smilla!«, sagte ich zu meinem Spiegelbild.
Als ich in
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