Indigosommer
eigenen Geschichten aufzuschreiben. Ich fand sie überall: auf den Wellen und im Meer. Im Wald, am Strand und hier, in La Push. Aber ich habe nicht mehr geschrieben seit letztem Sommer. Es funktioniert nicht mehr.« Conrad sah mich an. »Ich wollte Geschichten schreiben, Smilla. Doch jetzt habe ich nur noch das eine zu erzählen.«
Valerie brachte unser Essen und ich hatte das Gefühl, dass Conrad froh war, nicht weiterreden zu müssen. Die Pancakes waren goldbraun und dufteten. Die Erdbeeren sahen rot und frisch aus.
»Na denn«, sagte er und legte los.
Wir aßen, und als Conrad kauend mit der Gabel nach draußen zeigte, sah ich, dass vor unserem Fenster drei große braune Vögel saßen. Einer verspeiste gerade einen Fisch. Er saß darauf, hielt ihn mit seinen Klauen gepackt und riss mit seinem Schnabel die Innereien heraus.
Ich hörte auf zu kauen und schluckte schnell alles herunter.
»Das sind die jungen Weißkopfseeadler von James Island«, sagte Conrad.
Ich konnte meinen Blick kaum von ihnen wenden. Einer saß so dicht vor dem Fenster, dass ich jede einzelne seiner Krallen, die braunen Federn und den gebogenen Schnabel sehen konnte. Als die Vögel von etwas gestört wurden, breiteten sie ihre großen Schwingen aus und flogen davon. Wie gewaltig würde ihre Flügelspanne erst sein, wenn sie ausgewachsen waren.
Und dann sah ich auch, was sie aufgescheucht hatte: Im Fluss schwamm eine Robbe. Meine Robbe . Seelenruhig schwamm und tauchte sie. Auch Conrad hatte das Tier längst bemerkt und hörte auf zu essen.
»Das ist Robbie, der Surfer«, sagte ich. »Die Robbe kommt manchmal und surft mit uns auf den Wellen. Sie hat gar keine Angst und ist ziemlich gut. Ich habe versucht, von ihr zu lernen.«
Ich spürte, dass Conrad auf einmal unruhig wurde und seine Gelassenheit verlor. Seine Finger, die das Besteck hielten, zitterten.
»Was ist denn los?«, fragte ich.
»Diese Robbe, sie war auch da, als du...als ich dich...«
Ich nickte. »Ja, ich erinnere mich. Als ich unter Wasser war, schwamm sie um mich herum.«
»Justin«, entfuhr es Conrad. Das Messer fiel ihm aus der Hand und klirrte auf seinen Teller. Gleich darauf fluchte er leise. Seine Mundwinkel zuckten und sein Atem ging stoßweise. Nun war es passiert: Er hatte den Namen seines Bruders ausgesprochen. Aber das war es nicht allein. Ungläubig starrte er die Robbe an, die sich vor unserem Fenster vergnügt im Fluss tummelte.
Inzwischen hatten auch die beiden Kinder den Zoo vor dem Fenster entdeckt und pressten ihre weißen Nasen an die salzblinde Scheibe.
»Was hat die Robbe mit deinem Bruder zu tun?«, fragte ich vorsichtig.
Conrad sah mich an und ich merkte, dass er wieder einmal überlegte, ob er mit mir über solche Dinge reden sollte oder nicht. Nach allem, was zwischen uns passiert war letzte Nacht, machte mich das traurig, aber ich versuchte, es zu akzeptieren.
»Ich glaube, das ist er«, stieß er hervor.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Mein Schutzgeist . . .«, er stockte, »mein Schutzgeist ist eine Robbe. Und dieser Einzelgänger da...er zeigt sich erst, seit ihr euer Camp am First Beach aufgebaut habt.«
»Du meinst, die Robbe passt auf dich auf? Sie hat auf mich aufgepasst?«
»Ja. Ich glaube, wer immer das ist, will etwas in Ordnung bringen.«
Valerie kam und Conrad zahlte unser Frühstück. Ich merkte ihm an, dass er nicht vorhatte, noch weiter über das Thema zu sprechen. Da ich inzwischen wusste, dass er darüber sprechen würde, wenn er so weit war, stellte ich keine Fragen.
»Danke«, sagte ich stattdessen. »Erdbeeren zum Frühstück, drei Weißkopfseeadler und ein. . . eine Robbe vor dem Fenster. So viele Geschenke.«
»Geschenke?«
»Heute ist mein Geburtstag.«
Conrad sah mich entgeistert an. Das musste er erst mal ver dauen. Ich lächelte, beugte mich zu ihm über den Tisch und küsste ihn. »Danke für alles.«
Da endlich erschien auch auf seinem Gesicht ein Lächeln. Ein merkwürdig erleichtertes Lächeln. »Dann bist du jetzt siebzehn«, stellte er fest.
»Sechzehn«, sagte ich. Und als er mich vorwurfsvoll ansah, hob ich entschuldigend die Schultern. »Ich wollte damals meine Größe ein wenig wettmachen.« Ich stand auf und sagte: »Ich muss meine Eltern anrufen, das haben wir so ausgemacht. Wenn ich es jetzt nicht tue, ist es zu spät, wegen der Zeitverschiebung. Und dann muss ich ins Camp zurück, sonst kriege ich noch mehr Ärger. Wir können uns ja am Nachmittag wieder treffen.«
Am liebsten hätte ich
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