Indigosommer
mich, und als ich ihn spürte, da dachte ich: So werde ich mich nie wieder fühlen.
Sein Körper bebte genauso wie meiner. Und dann waren wir auf unserer Welle, die uns zum Ufer trug.
Das war schöner als alles, was ich bisher erlebt hatte. Ich dachte, die Welt müsse anhalten, aber das tat sie natürlich nicht. Die Erde drehte sich weiter, der Mond wanderte auf seiner Bahn und die Gezeiten wechselten einander ab. Doch ich fühlte mich für einen Augenblick am richtigen Ort.
Aneinandergeschmiegt lagen wir da, alle Anspannung war gewichen. Conrad hatte einen Arm über meinen Bauch gelegt. »Danke«, flüsterte er an meinem Ohr.
»Oh«, sagte ich, »bedanke dich bei den anderen. Wenn sie nicht so grässlich zu mir gewesen wären, hätte ich mich nicht hergetraut.«
»Bin ich wirklich so schlimm?«
»Ja«, sagte ich. »Aber zum Glück habe ich das vorher nicht gewusst.«
Als ich aufstehen wollte, hielt er mich brummend fest. »Geh jetzt nicht weg, okay?«
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte ich.
»Gleich nebenan.«
Bevor ich sein Zimmer verließ, drehte ich mich noch einmal zu ihm um. »Was sage ich, wenn ich deinem Vater begegne?«
»Keine Angst, er ist nicht da.«
Als ich Conrads kleines Bad betrat, fiel mir zuerst der mit einem Handtuch verhängte Spiegel auf. Das fand ich merkwürdig, sogar ein bisschen beängstigend. Aber als ich ein paar Minuten später zu Conrad ins Bett zurückschlüpfte, nahm er mich in die Arme und verwirrte mich erneut mit seinen Küssen, sodass ich den Spiegel vergaß.
Später, als ich ihn noch einmal nach seinem Vater fragte, er zählte mir Conrad, dass er eine Freundin in Neah Bay hatte, eine Makah-Indianerin. »Sie heißt Kate und hat einen kleinen Sohn, Leon. Wenn Dad freihat, ist er meistens dort. Anfangs kam ich überhaupt nicht damit klar«, sagte er. »Aber inzwischen habe ich begriffen, dass er sich einfach nur dem Leben zugewandt hat.«
»Dein Vater sieht so jung aus«, sagte ich und kuschelte mich an seine Seite.
»Er ist sechsunddreißig. Als mein Bruder und ich geboren wurden, war er zwei Jahre jünger als ich. Aber er hat unsere Mom geheiratet und sich um uns gekümmert. Ich weiß nicht, wann sie aufgehört haben, sich zu lieben. Mein Bruder und ich waren die meiste Zeit mit uns selbst beschäftigt.«
In dieser Nacht entlockte ich Conrad den Namen seines Zwillingsbruders. Justin. Er sprach ihn nicht aus, aber er schrieb den Namen für mich auf seinem Laptop und löschte ihn sofort wieder.
»Hast du ein Foto von ihm?«, fragte ich.
Conrad stand auf und holte eine Fotografie aus der Schublade seines Schreibtisches. Darauf waren die Zwillingsbrüder zusammen abgebildet und tatsächlich wusste ich zu Anfang nicht, wer von beiden Conrad und wer Justin war, so sehr glichen sie einander.
Doch als ich das Foto genauer betrachtete, sah ich es. Justin hatte seinem Bruder lässig einen Arm um die Schulter gelegt. Er lachte, strahlte über das ganze Gesicht und in diesem Lachen lag die Gewissheit, dass er alles haben konnte, wenn er es nur wollte. Auch Conrad lächelte, aber ich sah die Vorsicht in seinem Blick. Als ob er jeden Moment damit rechnete, dass eine schwarze Wolke die Sonne verdunkeln würde.
»Und?«, fragte Conrad.
Ich tippte auf den Jungen mit dem vorsichtigen Lächeln. »Das bist du.«
Er war verblüfft. »Woran hast du . . .?« Doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein, sag nichts.« Conrad schmiegte sich an mich und ich ließ das Foto auf den Boden fallen.
»Manchmal«, sagte er an meinem Ohr, »da wünschte ich, ich könnte ihn einfach aus meinem Leben löschen – wie vorhin vom Bildschirm. Und gleichzeitig habe ich große Angst, ihn für immer zu verlieren. Ich bin der unvollständige Teil eines Ganzen, Smilla. Und nichts wird je etwas daran ändern.«
»Aber du musst ihn loslassen«, sagte ich, »sonst bestimmt er dein Leben.«
»Er war mein Zwillingsbruder«, sagte Conrad. »Dasselbe Blut, dieselben Gene. Jeder wusste, was der andere dachte. Wir haben sogar gemeinsam geträumt. Ich kann ihn nicht einfach ausradieren.«
»Das sollst du ja auch nicht.«
Er erzählte mir, dass nach dem alten Glauben der Quileute Zwillinge besondere Macht hatten. »Wurde ein Zwillingspärchen geboren, durfte der Vater zwanzig Tage lang nicht fischen und musste einen Monat lang im Wald leben. Die Zwillinge wurden niemals getrennt, sie schliefen auch in einem Bett. Waren beide Mädchen, heirateten sie später denselben Mann. Waren sie Jungen, wurden sie nicht
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