Indigosommer
gehört Milo oder besser: Milos Vater.
Conrad klopft an der Tür des Trailers und wenig später öffnet Tamra ihm. »Hallo«, sagt er und sie tritt zur Seite, um ihn hereinzulassen.
Drinnen, im düsteren Wohnzimmer mit den abgeschabten Möbeln, ziehen bläuliche Rauchschwaden durch den Raum. Der Fernseher läuft, irgendeine Sitcom mit weißen Collegegirls. Tamra setzt sich wieder auf die Couch aus braunem Kunstleder.
»Schläft er?«, fragt Conrad.
»Seit einer halben Stunde«, antwortet sie müde. »Ich glaube, er bekommt Zähne, so wie er den ganzen Abend geschrien hat.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Ja, aber sei leise. Ich habe keine Lust, dass das Theater wieder von vorn anfängt.«
Conrad öffnet die Tür zu dem kleinen Zimmer, in dem Tamra und ihr Sohn Kayad schlafen. Licht fällt auf den kleinen Kerl im großen zerwühlten Bett, der – einen Daumen im Mund – jetzt friedlich schläft.
Den Kopf gegen den Türrahmen gelehnt, nimmt Conrad das Bild des schlafenden Jungen in sich auf. Es gibt ihm keinen Frieden, nicht mal für einen Moment. Er sorgt sich um den Kleinen. Tamra ist völlig überfordert mit dem Kind. Conrad wünscht, seine Mutter wäre noch da und könnte sich um ihren Enkelsohn kümmern.
Er geht zurück zu Tamra. Sie sitzt auf der speckigen Couch und hat sich eine neue Zigarette angesteckt. Tamra ist schön, aber die Widrigkeiten des Lebens setzen ihr zu. Windeln, Babygeschrei, der Job im »River’s Edge«. Ihr zartes Gesicht mit den hohen Wangenknochen verschwindet in einer Rauchwolke, als wäre sie ein Geist.
»Wenn du Durst hast«, sagt sie, »im Kühlschrank ist Bier.«
Conrad holt sich eine Dose Budweiser und öffnet sie. Er setzt sich zu Tamra auf das durchgesessene Sofa, legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und trinkt. Durch seinen Kopf schwirren Bilder von Justin und ihm, als sie noch klein waren und ihre Mutter ihnen Geschichten erzählt hat. Von Doskàya, der Wilden Frau aus dem Walde, von den Tlokwali, den Wölfen, ihren Vorfahren, und von riesigen Meeresungeheuern, die mit dem Donnervogel kämpften. Das waren gute Erinnerungen. Justin und er liebten diese Geschichten. Conrad zweifelt daran, dass Kayad jemals von seiner Mutter Geschichten hören wird, denn Tamra selbst hat nie welche erzählt bekommen: Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt und ihr Vater ist ein Säufer.
»Milo hat gesagt, sie sind wieder da«, hört Conrad Tamra sagen.
Er antwortet, ohne die Augen zu öffnen. »Ja. Diesmal haben sie Mädchen dabei. SurferTussis.«
Tamra drückt die Zigarette im Aschenbecher aus, der voller Stummel ist. »Mach bloß keinen Mist, Conrad«, sagt sie. »Du musst endlich aufhören, wütend zu sein.«
Sein Körper schnellt nach vorn. »Ich kann nicht, verdammt«, ruft er und Tamra legt einen Finger auf die Lippen. In gedämpf tem Tonfall, aber immer noch aufgebracht, sagt er: »Und ich verstehe nicht, wie du es kannst: Nicht mehr wütend sein.« Er funkelt sie an.
»Ich habe anderes zu tun, als wütend zu sein«, sagt Tamra. »Er ist tot, Conrad, und nichts, auch deine Wut nicht, wird je etwas daran ändern.« Sie steht auf. »Ich bin müde, ich gehe schlafen. Wenn du bleiben willst, ich kann Kayad ins Kinderbett legen.«
Conrad betrachtet die junge Frau. Tamra ist das schönste Mädchen, das er je in Fleisch und Blut gesehen hat, und vor nicht allzu langer Zeit hat er sie mit jeder Faser seines Körpers begehrt. Jetzt fühlt er nur noch Verantwortung für sie und den Jungen. Er kann sie nicht lieben, aber er kann es auch nicht ertragen, mit sich allein zu sein. Deshalb sagt er: »Okay.«
Tamras Hände sind kalt und ihn fröstelt. Sie nimmt sich, was sie braucht, das war noch nie ein Problem für sie. In seiner unbändigen Einsamkeit wünscht Conrad sich, er könne wieder er selbst sein. Doch er ist vollkommen abgeschnitten von seinen Gefühlen, er lebt in seinem Hass wie in einer dunklen Höhle.
Tamra dreht sich zur Seite und er hört an ihren gleichmäßigen Atemzügen, dass sie eingeschlafen ist. Conrad zieht sich leise an. Es hat keinen Sinn, bei ihr zu bleiben. Tamra kann ihn nicht vor seinen Albträumen bewahren, dazu müsste sie erkennen, was mit ihm los ist. Nachdem Conrad noch einen Blick auf den schlafenden Jungen im Kinderbett geworfen hat, geht er.
Draußen ist die Luft klar und vom Duft der Zedern erfüllt. Der Wind kommt vom Landesinneren und wird den Surfern einen guten Swell und damit bei Flut auch hohe Wellen bescheren. Conrads Brust schmerzt, wenn
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