Indigosommer
seinen Bruder vermisst. Conrad will ihm sagen, dass er am Ende ist, aber er kann es nicht.
»Wir schaffen das, mein Junge. Zusammen schaffen wir es. Gib dir noch etwas Zeit.«
»Ja, Dad«, sagt Conrad, ein Würgen in der Stimme.
»Okay, dann schlaf gut.«
»Ja, du auch, Dad.«
Wie jede Nacht versucht Conrad, seine Dämonen mit lauter Musik fernzuhalten. Die Kopfhörer im Ohr, starrt er in die Dunkelheit, die ihn umschließt. Anthony Kiedis von den Red Hot Chili Peppers singt:... what sound a million miles of water that are flowing deep beneath this ground now I found you right here a million miles of water . . .
Irgendwann ist die Batterie seines MP3-Players leer und es gelingt ihm nicht länger, sich wach zu halten. Mit dem Schlaf kommt der immer wiederkehrende Traum. Conrad kann ihn nicht aufhalten, er hat keine Macht über seine Träume. Unaufhörlich sinkt er hinab in die Tiefen seiner Qual. Er ist unter Wasser und sucht nach Justin. Hier unten in der grünen Welt des Zwielichts schwebt schwarzer Seetang und lange Kelparme versuchen, nach ihm zu greifen.
Conrad taucht tiefer, sucht mit weit aufgerissenen Augen und die Luft wird ihm allmählich knapp. Irgendwo hier unten muss er sein, Justin, sein waghalsiger Bruder. Wenn er ihn findet, dann kann er ihn retten. Conrad weiß, wie man jemandem das Salzwasser aus der Lunge drückt, das hat er schon als Kind von seinem Vater gelernt. Er muss Justin nur finden, dann wird alles gut, alles wird so sein, wie es vorher war. Er wird sein Leben zurückbekommen.
Da, ein Arm hinter einem Felsenriff. Lange schwarze Haare, die nach oben schweben wie Seetang. Er hat ihn gefunden, endlich. »Justin«, versucht er zu schreien, aber aus seinem Mund kommen nur Blasen, die an die Wasseroberfläche steigen wie silberne Murmeln. Conrad schwimmt auf seinen Bruder zu, will nach ihm greifen, doch als er Justins Arm zu packen bekommt, löst sich das Fleisch von den Knochen seines Bruders. Aus Justins schwarzen Augenhöhlen kommen kleine Schwärme silberner Fische geschwommen, die wie winzige Spiegelscherben glitzern.
Conrad lässt den Knochenarm seines Bruders los und öffnet den Mund zu einem hilflosen Schrei. Kaltes, salziges Meerwasser flutet seine Lungen. Voller Panik versucht er, nach oben zu kommen, wo Licht ist und Sauerstoff. Doch etwas hält ihn mit eisernem Griff am Meeresboden fest. Es sind die fleischlosen Hände seines Bruders, bleiche Knochen, die langsam grünen Moder ansetzen.
Conrads eigenes, gequältes Wimmern holt ihn aus seinem Albtraum. Das klamme Bettzeug hat sich fest um seinen Körper gewickelt. Er sitzt im Bett, nass von kaltem Schweiß, brennende Tränen in den Augen. Salzwassertränen. Conrad japst nach Luft und pumpt Sauerstoff in seine Lungen. Stöhnend lässt er sich auf sein nasses Kissen zurückfallen.
Wird es je aufhören, fragt er sich verzweifelt. Werde ich je wieder schlafen können? Ein salziger Wind dringt durch das offene Fenster in sein Zimmer und bewegt die Vorhänge. Das Salz kriecht in alle Ritzen, setzt sich auf die Fensterscheibe und macht sie blind.
Conrad starrt auf den beweglichen Schatten in der Ecke seines Zimmers und stellt sich vor, dass Justin dort steht.
»Conrad?«, dringt die flüsternde Stimme seines Bruders an seine Ohren. Er hat das Gefühl, als presse ihm jemand die Luft aus den Lungen.
»Was willst du von mir?«, bringt er mühsam hervor. »Geh weg, ich habe dich nicht gerufen.«
5. Kapitel
W ie eine zähe graue Masse hing der Nebel zwischen den Bäumen hinter dem Camp. Er haftete an den Granitfelsen und drückte auf den Strand. Was vom Meer zu sehen war, schimmerte in einem gelben Grau. Träge Wellen schickten ihren Schaum über den glatten Sand.
Es war erst acht und die anderen schliefen noch. Das dachte ich jedenfalls, bis ich einen rennenden Riesen aus dem Nebel auftauchen sah. Mark joggte am Strand – barfuß. Er winkte mir zu und verschwand wieder im grauen Dunst.
Ich putzte meine Zähne und machte Katzenwäsche gleich hinter dem Treibholzstamm. Dann holte ich meine Digitalkamera aus dem Zelt und versuchte, die Nebelschwaden in Bildern einzufangen. Ich schoss einige Fotos mit hoher Belichtung und dann mit niedriger. Klick, klick, klick. Die Kamera hatte viele Funktionen, mit denen ich mich erst noch beschäftigen musste. Das Handbuch würde in den nächsten Tagen meine vorrangige Lektüre sein.
Ich wollte Fotografin werden. Mein dänischer Großvater war Fotograf, seine Landschaftsaufnahmen von den
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