Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Indigosommer

Indigosommer

Titel: Indigosommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
ihnen wagte, es mit diesen Wahnsinns-wellen aufzunehmen, auch Mark mit seinem stabilen Longboard nicht. Ich nahm meinen Bruder ein paar Meter beiseite und appellierte leise an seine Vernunft. Es kam nur selten vor, aber manchmal hörte er auf mich. Ich flehte ihn an, dass es das nicht wert sei, sein Leben zu riskieren, dass es niemanden gab, mit dem er sich messen konnte. Aber er hat nur gelacht.
    Für einen Moment«, sagte Conrad leise, »war alles gut. Ich wusste, er würde umkehren und einfach den großen Wellen seinen Respekt zollen, indem er nicht versuchte, es mit ihnen aufzunehmen. Doch auf einmal sagte Josh etwas und der Wind trug das Wort »Schlappschwanz« zu uns herüber. Das Wort wirkte wie ein Funke. Ein Ruck ging durch den Körper meines Bruders. Ehe ich ihn zurückhalten konnte, rannte er los. Er hörte nicht mehr auf mein Rufen, passte den richtigen Augenblick ab und schwamm mit seinem Brett durch die tobende Brandung hinaus.
    Die Wellen, die hereinkamen, waren über sechs Meter hoch. Kein Problem für einen guten Surfer – aber nicht hier, an diesem Strand. Da draußen fließt der Kuro Schio, der Pazifische Strom, nordwärts und verdrängt das kalte Wasser in Richtung Küste. Mit immensem Druck wird es durch die Rinnen am Meeresboden gepresst und dabei entstehen unberechenbare Wirbel, Strömungen oder Flutwellen – du hast das ja selbst erlebt. Die Wellen, die an diesem stürmischen Tag hereinkamen, brachen sich in unvorhersehbarer Weise. Mein Bruder wusste das, aber sein Stolz war zu groß, er konnte sich von einem Bleichgesicht nicht Schlappschwanz schimpfen lassen.«
    Bleichgesicht, dachte ich ungläubig. Und ich ahnte, was nun kommen würde. Deshalb all der Hass. Conrad machte Josh für den Tod seines Bruders verantwortlich.
    »Ich stand am Ufer mit angehaltenem Atem«, fuhr er fort. »Ich dachte, wenn er das überlebt, werde ich mit ihm nach Kalifornien gehen. Mein Bruder senkte den Kopf und paddelte den Wellentürmen entgegen. Immer wieder sah ich ihn auftauchen und erneut in einem Wellental verschwinden mit seinem Brett.
    Er paddelte mit aller Kraft, um es über jede Welle zu schaffen, bevor sie brach. Dann rollte eine weitere Riesenwelle herein und ich hoffte, dass er nicht vorhatte, diese Welle zu surfen. Aber er nahm sie sich vor und er schaffte es tatsächlich. Mein Bruder ritt das tosende Ungetüm bis zum Strand.
    Die Jungs jubelten ihm vor Bewunderung zu, doch ich wagte kaum zu atmen. Ich war stolz auf ihn und unendlich erleichtert.« Conrad sah mich traurig an. »Doch er hatte noch immer nicht genug. Keine Ahnung, was in ihn gefahren war, aber so war er nun mal. Er paddelte noch einmal hinaus, wartete und schnappte sich die nächste Riesenwelle.«
    »Und diesmal ging es schief«, flüsterte ich.
    »Ja. Er startete ein paar Sekunden zu spät und geriet an den vordersten Rand der brechenden Welle. Er stürzte in ein Wellental, wurde von der Wucht des Wassers mitgerissen und kam nicht wieder hoch. Ich bin, so schnell ich konnte, rein zu ihm und Mark kam mir hinterher, aber wir konnten ihn nicht finden, er tauchte einfach nicht wieder auf. Nur sein Brett wurde an den Strand gespült, die Fangleine war gerissen.«
    Ich konnte Conrad ansehen, wie ihm die Erinnerung an diesen Tag zu schaffen machte. Er brauchte einen Moment, um Kraft zu schöpfen, bevor er weitererzählen konnte.
    »Es gab dann einen ziemlichen Tumult am Strand. Die Küstenwache suchte mit Booten nach ihm. Deine Freunde reisten ab, niemand scherte sich um sie. Es war ein Unfall, mehrere Leute aus La Push, die wegen der Wellen an den Strand gekommen waren, hatten das wahnwitzige Manöver meines Bruders gesehen. Sie bedauerten, was passiert war, aber in ihren Augen war es seine eigene Schuld. Er hatte den Ozean herausgefordert.«
    »Aber für dich gab es einen Schuldigen«, sagte ich. »Josh.«
    Conrad nickte kaum merklich. »Ich dachte: Es muss einen Schuldigen geben. Wo ist sonst der Sinn? Aber es gibt keinen Sinn, inzwischen weiß ich das.«
    »Hast du deine Wut an Joshs und Alecs Wagen ausgelassen?«, fragte ich ihn zum wiederholten Mal. Und dachte: Bitte lüg mich jetzt nicht an.
    Ich bekam ein stummes Nicken zur Antwort. »Ich war wütend und verzweifelt. Ich konnte nicht begreifen, dass sie wieder an unseren Strand gekommen waren, so, als ob nichts passiert wäre. Ich musste etwas tun, sonst wäre ich verrückt geworden.« Er sah mich kurz an, dann senkte er den Blick.
    »Ich werde nichts sagen, ich kann es verstehen.«

Weitere Kostenlose Bücher