Individuum und Massenschicksal
natürlich die Notwendigkeit, diese subjektive Erfahrung in sinnvolle Begriffe zu fassen. Wenn ihr glaubt, daß ihr tatsächlich eure eigene Wirklichkeit hervorbringt, dann stoßt ihr sofort auf eine ganz neue Reihe von Fragen. Wenn ihr tatsächlich individuell und en masse selbst Erfahrung erschafft, warum gibt es dann in eurem Leben soviel Negatives? Entweder schafft ihr euch selbst eure Wirklichkeit, oder sie wird für euch geschaffen. Das läuft entweder auf ein zufälliges Universum hinaus - oder eben nicht. (Pause.) Nun hielt im Mittelalter die etablierte Religion oder das organisierte Christentum für jedes Individuum ein engmaschiges Gitter von Glaubensüberzeugungen bereit, durch das hindurch das persönliche Selbst wahrgenommen wurde. Anteile des Selbst, die durch dieses Gitter nicht wahrgenommen werden konnten, waren für den Menschen unsichtbar. Alle Probleme waren von Gott gesandt als Warnung oder Strafe. Die Mechanismen der Erfahrung waren hinter jenem Gitter wie hinter einem Schleier verborgen.
Nun denn: Die Glaubenssätze eines Charles Darwin und eines Sigmund Freud haben euch unter ein neuartiges Gitter gesetzt. Erfahrung wird akzeptiert und wahrgenommen nur insoweit, als sie durch dieses Gitter gefiltert werden kann. Sah das Christentum den Menschen als von der Erbsünde befleckt, so erscheint er in der Darwinschen Sichtweise als Vertreter einer mit Mängeln behafteten Gattung, in der das individuelle Leben wenig zählt und stets hinter den Erfordernissen der Gattung rangiert, wobei das Überleben oberstes Ziel ist - jedoch ein Überleben ohne Sinn. Die Großartigkeit der Psyche wird ignoriert, das Zusammengehörigkeitsgefühl des Individuums mit der Natur wird untergraben, denn der Mensch, so scheint es, muß auf Kosten der Natur überleben. Die größten Träume und die schlimmsten Befürchtungen gelten als Ergebnis unausgeglichener Drüsenfunktionen oder, um Freud das Wort abzunehmen, als durch traumatische Erfahrungen der Kindheit bedingte Neurosen.
Doch inmitten dieser Glaubenssätze sucht jedes Individuum einen Sinnzusammenhang zu finden, in dem sein Leben von Bedeutung ist, eine Aufgabe, die das Selbst zum Handeln motiviert, ein Schauspiel, in dessen Thematik individuelles Handeln einen Sinn hat.
Es gibt intellektuelle und emotionale Werte, und manchmal gibt es Bedürfnisse emotionaler Natur, die ungeachtet der Urteile des Intellekts befriedigt werden müssen. Die Kirche hielt für die Menschheit ein kosmisches Drama bereit, in welchem selbst das Leben des Sünders seinen Wert hatte, und sei es nur den, daß Gott Erbarmen zeigen konnte.
In eurer Gesellschaft jedoch führt das sterile seelische Klima häufig zur Rebellion: die Menschen unternehmen Schritte, um Sinn und Dramatik in ihr Leben zu bringen, auch wenn sie sich auf intellektueller Ebene weigern, den Zusammenhang zu erkennen.
Macht Pause.
(21.59 Uhr. Jane war nicht besonders erstaunt, daß Seth zu seinem Buch zurückgekehrt war, da sie dies schon vor Beginn der Sitzung vermutet hatte. Aber sie war »ein bißchen nervös gewesen, auch wenn das eigentlich blöd ist: Immer noch frage ich mich nach einer solchen Arbeitsunterbrechung, ob ich es wieder hinkriege. Der Stoff ist allerdings überhaupt nicht das, was ich eigentlich erwartet hatte...«
Ich sagte ihr, daß es mir Vergnügen macht, Buchdiktat zu erhalten, weil es mich daran erinnert, daß es neben persönlichen Sitzungen noch etwas anderes gibt. Es erinnert mich auch daran, wie gut das Material in seinem allgemeineren Kontext sein kann und daß Seth Wissensreserven für uns bereithält, die wir niemals vollauszuschöpfen imstande sein werden, einfach aufgrund unseres Alters und anderer zeitlich bedingter Begrenzungen. Meine Gedanken brachten natürlich Gefühle des Bedauerns hoch; doch meinte Jane, wir sollten uns lieber auf das konzentrieren, was wir zu tun imstande sind. Ein guter Rat.
Fortsetzung um 22.07 Uhr.)
Als eine große Zahl von Menschen Gott über Bord geworfen hatte, wurde sein Platz vom »Schicksal« eingenommen (lange Pause) , und auch der Wille wurde seiner Substanz beraubt.
Ein Mensch konnte weder auf persönliche Leistungen stolz sein, noch konnte er wegen eines Versagens getadelt werden, da seine besonderen Eigenschaften, Möglichkeiten und Mängel weitgehend als Resultat von Zufall, Erbfaktoren und unbewußten Mechanismen verstanden wurden, die sich allem Anschein nach seiner Kontrolle weitgehend entziehen. Der »Teufel« ging, bildlich gesprochen, in
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